Gesammelte Werke
Undurchschaubare ins Nahe und Verständliche, das Verdinglichte ins Menschliche, sei's auch im Widerspruch zur Realität, übersetzt. Das ist der Mechanismus der
Personalisierung,
dessen Gewalt um so größer ist, weil er sich stets an das tatsächlich genauere Wissen vom Näheren anzuschließen vermag. Daß es sich jedoch um einen eigenständigen sozialpsychologischen Prozeß von großer Gewalt, nicht um der Wirklichkeit voll angemessene Urteile handelt, wird daran deutlich, daß dem Nahen immer wieder auch solche negativ erfahrenen Momente aufgebürdet werden, die gar nicht in der Nähe ihren Ursprung haben. Daß Vorgesetzte niedriger Grade, an welche die Verfügungsgewalt delegiert ist, etwa wie Unteroffiziere in Armeen, oftmals den »rauhen, aber nicht herzlichen« Ton praktizieren, über den in den Diskussionen geklagt wird, verstärkt jene psychologische Neigung. Bekannt ist, daß Menschen mit schmalem Einkommen ihren Haß gegen den Einzelhändler richten, an dessen Preisen ihnen zum Bewußtsein kommt, daß ihr Verdienst nicht ausreicht, und nicht gegen die mehr oder minder unsichtbaren Ursachen der kargen Verhältnisse, unter denen sie leben. Ähnlich werden von den Arbeitern die unmittelbar Vorgesetzten für alles Mögliche verantwortlich gemacht, wofür sie kaum verantwortlich sein dürften, nur weil man dann wenigstens negativ eine Spur des Menschlichen in der entfremdeten Welt sich bewahrt; weil man sich überhaupt an eine Person, die man sieht und hört, meint halten zu können.
In diesem Sinn erweist sich der Begriff des »Betriebsklimas«, sei es positiv oder negativ, als problematisch, wofern man ihn nicht so eng faßt, wie in der instrumentellen Definition. Tritt dieser Begriff in den Vordergrund, so stellt das Nahe sich vor das Ferne, als wäre es wichtiger, während das eigentlich Wichtige gar nicht im Bereich der menschlichen Beziehungen entschieden wird; und dies falsche Bewußtsein entsteht notwendig aus der Situation. Kleine Beschwerden, über deren Recht oder Unrecht die Studie nichts auszumachen vermag, spielen vielfach die Rolle von Katalysatoren für Regungen ganz anderen Ursprungs. Was im gesamtgesellschaftlichen Verhältnis wurzelt, wird nicht dort aufgesucht, sondern bei den nächstgreifbaren Personen, also wesentlich den Vorgesetzten niedrigen Grades.
Erst im Zusammenhang solcher Überlegungen dürfte der Stellenwert des Komplexes »Lohn« sich einigermaßen bestimmen. Sicherlich werden, solange die Prosperität währt, die Löhne in dem studierten Bereich nicht als grundsätzlich unangemessen empfunden; das potentielle Unbehagen der Arbeiter dürfte viel eher an ihre gesamtgesellschaftliche Lage, schließlich an das Bewußtsein ihrer Ohnmacht, zumal gegenüber den Naturkatastrophen der Konjunktur, geknüpft sein, als daß es sich auf die gegenwärtigen materiellen Bedingungen bezöge. Selbständigkeit oder Unselbständigkeit, Sicherheit oder Unsicherheit, Würde oder sich als bloßes Objekt wissen – alle diese Momente eines ›sozialen Standards‹ sind im subjektiven Bewußtsein der Arbeiter mit den im engeren Sinn materiellen Bedingungen, der Spanne von Lebenshaltung und Existenzminimum, verschmolzen. Vielfach wird die Ahnung der Unfreiheit heute auf ›ideologische‹ Momente verschoben.
Im übrigen scheint – wenn eine Spekulation erlaubt ist – das Bewußtsein der Entfremdung, vielleicht im Zusammenhang mit der fortschreitenden Rationalisierung der Produktionsweise, anzusteigen. Selbst die Institution der Betriebsräte ist in Betrieben oberhalb einer gewissen Größenordnung, ähnlich wie längst schon die Gewerkschaften, dem Erfahrungsumkreis weithin entrückt, und man klammert sich mit Vertrauen und Mißtrauen an jene, die buchstäblich den Namen »Vertrauensleute« tragen. Ob im Zusammenhang damit der gesellschaftliche Denkhorizont der Arbeiter einschrumpft; ob es sich hier um eine sozialpsychologische Dynamik handelt, die einer objektiven in der Produktionssphäre entspricht, oder ob heute die empirische Sozialforschung erstmals auf Sachverhalte stößt, die in der Industriegesellschaft relativ konstant sind, aber früher durch ein theoretisch geprägtes Bild des Arbeiters überdeckt waren, läßt sich aufgrund der Ergebnisse der Studie nicht ausmachen. Deutlich dagegen zeichnet, im Sinne einer Ambivalenz der Neigung zum ›Personalisieren‹, zuweilen ein gewisses Mißtrauen der Arbeiter gegen ihre Repräsentanten sich ab; sei es, daß diese, innerhalb der gegebenen
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