Gesammelte Werke
und Gesellschaft. Eine Erhebung des Instituts für Sozialforschung unter Mitwirkung des Instituts für vergleichende Sozialwissenschaften. Hektographierter Forschungsbericht. – Das Vorwort ist unterzeichnet von Max Horkheimer und Adorno.
Theodor W. Adorno und Christoph Oehler
Die Abhängigkeit des Ausbildungszieles von den Studienerwartungen der Studenten 1
Geht man davon aus, daß die Situation unseres Bildungswesens tatsächlich antagonistisch ist; daß die Studierenden nicht nur zwischen Divergentem zu wählen haben, sondern versuchen müssen, Widerstreitendes wie ihr spezifisches sachliches Interesse und ihr materielles Fortkommen zusammenzubringen, so wird man geradezu erwarten dürfen, daß einander widersprechende Motive an der Wahl des Studiums und des Studienfaches beteiligt sind. Man wird sich den Entschluß selbst – falls überhaupt so etwas wie ein artikulierter Entschluß dem Studium zugrunde liegt – als Resultante eines Kräfteparallelogramms vorstellen müssen.
Das gilt freilich nicht schlechterdings, sondern hat seinen historischen Stellenwert. Einmal, selbst unter den Bedingungen entfremdeter Arbeit, ist es wahrscheinlich anders gewesen; und selbst heute ist es stets noch in einzelnen Bereichen anders. In jener Periode, welche man die des aufsteigenden Bürgertums zu nennen liebt, etwa von der industriellen Revolution bis zum Hochkapitalismus, hat fraglos zwischen menschlichen Produktivkräften, wie der Begabung für Chemie, Physik, technische Fächer, und den beruflichen Anforderungen eine temporäre, wenngleich von Krisen bedrohte Harmonie geherrscht. Fast könnte man glauben, beide Momente hätten sich wechselfältig produziert. Als die Technik historisch fällig war, gab es auch für sie spezifisch Begabte; Marktanforderung und anthropologische Qualitäten gingen zusammen; wahrscheinlich weil die letzteren in viel höherem Maß selber bereits gesellschaftlich vermittelt sind, als der Glaube an die Naturwüchsigkeit der Menschen es wahrhaben will. Ähnliches mag heute für Fächer wie die Kernphysik gelten, obwohl es dem nicht fachlich Zuständigen schwer wird zu beurteilen, ob in der Tat alle die, welche zu dem gesellschaftlich fälligen Fach drängen, ihrer Begabung nach auch wirklich dazu qualifiziert sind. Aber grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß in der verwalteten Welt, die virtuell alle, die ihr angehören, als Angestellte einfängt, die Spannung zwischen dem, was man zu Fichtes Zeiten Bestimmung des Menschen nannte, und seiner gesellschaftlichen Bestimmung durch den vorgezeichneten Beruf angewachsen ist. Die technologische Arbeitslosigkeit, deren Schatten auch über Prosperitätsperioden fällt; die latent stets fühlbare Überfüllung des Arbeitsmarktes und das Schrumpfen des freien Unternehmertums, dessen Erfolg bis zu einem gewissen Grad auch jene Qualitäten honorierte, in denen der einzelne seiner bloßen Funktion in der Gesellschaft sich entgegensetzte – all das verstärkt die Differenz zwischen dem, was ein Mensch von sich aus ist und möchte, und dem, was er werden und tun muß, um sein Leben und das seiner Familie zu erwerben. Der Begriff der ›Resignation‹ drückt das aus. Ja, zuweilen will es scheinen, als wäre jener Antagonismus derart angewachsen, daß das Individuum, um es überhaupt im Leben aushallen zu können, ihn zu seinen Ungunsten vorentscheidet, das vollzieht, was man in der Psychoanalyse »Identifikation mit dem Angreifer« nennt, und sich selbst gegenüber zum Sachwalter eben jenes heteronomen ›Realismus‹ wird, den man zuinnerst fürchtet. Viele Äußerungen junger Akademiker, die von Rancune gegen den Geist gefärbt sind, mögen in diesem Mechanismus ihre Erklärung finden. Die Fesselung der Produktivkräfte, in deren Zeichen die Welt trotz aller Entfesselung der Technik heute steht, wiederholt sich nochmals in den Subjekten, die gleichsam sich selbst fesseln müssen, und darum ist auch die oft beklagte und nicht abzuleugnende ›Geistfeindschaft‹ vieler Studierenden nicht absolut zu nehmen, sondern als Ausdruck einer sei es auch ihnen selbst unbewußten Verzweiflung.
Wo der Entwicklungsstand der Produktivkräfte ihrer Träger wahrhaft bedarf, steigern sich diese an ihm und der gesellschaftlichen Forderung, so wie umgekehrt diese weitergetrieben wird von der Spontaneität der Subjekte. Daß die Möglichkeit dieser Wechselwirkung heute kaum mehr auch nur ins Blickfeld tritt, bezeugt, wie weit Produktionsverhältnisse und
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