Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
mir über die Wange. »Rjug, also … Nun ja, natürlich, von mir aus auch zwei Rjugs. Hör mal, Len, warum bist du nicht zehn Minuten eher gekommen?«
»Wusi war doch hier«, erklärte Len. »Wir haben durchs Fenster geguckt und gewartet, bis sie ging.«
»Ach ja?«, sagte ich. »Interessant. Rjug, mein Kleiner, was werden deine Eltern sagen?«
Rjug antwortete nicht. Len sagte: »Er hat keine Eltern.«
»Na dann«, sagte ich und fühlte mich etwas müde. »Werdet ihr euch auch keine Kissenschlacht liefern?«
»Nein«, antwortete Len, ohne zu lächeln. »Wir werden schlafen.«
»In Ordnung«, erwiderte ich. »Während ich euch die Betten mache, räumt ihr hier schnell auf.«
Ich machte ihnen auf der Liege und auf den Sesseln Platz zum Schlafen, und sie zogen sich sofort aus und legten sich hin. Ich schloss die Tür zur Diele ab, löschte das Licht, ging in mein Schlafzimmer hinüber und saß eine Weile am Fenster. Ich hörte, wie sie tuschelten, sich herumwälzten und die Möbel verrückten. Dann waren sie still. Gegen elf Uhr klirrte im Haus splitterndes Glas. Waina stimmte ein Marschlied an, wieder klirrte Glas. Anscheinend war der unermüdliche Peti erneut mit der Nase hineingefallen. Aus der Stadt schallte »Bibberlein – Bibberlein!« herüber, und auf der Straße erbrach sich jemand.
Ich schloss das Fenster und zog die Stores zu. Die Tür zwischen Arbeitszimmer und Schlafzimmer verschloss ich ebenfalls. Dann ging ich ins Badezimmer und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Ich machte alles nach Vorschrift: stellte den Empfänger auf das kleine Seifenbord, warf ein paar »Dewon«-Tabletten und Kristalle aromatischen Salzes ins Wasser und wollte eben eine Tablette schlucken, als mir einfiel, dass ich mich noch »lockern« musste. Ich wollte die Jungen nicht stören, brauchte ich auch nicht, denn ich fand eine angebrochene Flasche Brandy im Toilettenschränkchen. Ich trank ein paar Schluck aus der Flasche, nahm die Tablette, zog mich nackt aus, stieg in die Wanne und schaltete den Empfänger ein.
11
Den Temperaturregler hatte ich absichtlich nicht eingeschaltet, und als das Wasser kalt wurde, wachte ich auf. Der Empfänger heulte, der Schein des hellen Lichts auf den weißen Wänden stach mir in die Augen. Ich fror entsetzlich und hatte Gänsehaut. Nachdem ich den Empfänger ausgeknipst hatte, drehte ich den Heißwasserhahn auf und genoss die zunehmende Wärme und die sehr seltsame, gänzlich neue Empfindung vollständiger, geradezu kosmischer Leere. Den erwarteten Katzenjammer hatte ich nicht. Ich fühlte mich einfach wohl. Und mir kamen viele Erinnerungen. Es ließ sich sehr gut denken, wie nach einer langen Erholung in den Bergen …
Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatten sich Olds und Milner mit Experimenten zur Gehirnstimulation beschäftigt und weißen Ratten Elektroden ins Gehirn gepflanzt. Ihre Technik und ihre Methodologie waren barbarisch, aber sie machten im Rattengehirn die Glückszentren ausfindig und erreichten, dass die Tiere stundenlang den kleinen Hebel drückten, der den Strom durch die Elektroden leitete, wobei sie bis zu achttausend Selbstreizungen in der Stunde hervorriefen. Die Ratten benötigten nichts Reales. Außer von dem Hebel wollten sie von nichts etwas wissen. Sie ignorierten nicht nur Nahrung, Wasser und Gefahr, sondern auch Weibchen, und nichts in der Welt interessierte sie – außer dem Stimulatorhebel. Später wurden die Versuche an Affen vorgenommen und ergaben die gleichen Resultate. Es ging das Gerücht um, jemand habe derartige Experimente auch an Verbrechern angestellt, die zum Tode verurteilt gewesen seien …
Es war eine schwere Zeit damals für die Menschheit, eine Zeit des Kampfes gegen die atomare Vernichtung, eine Zeit ununterbrochener kleiner Kriege auf dem gesamten Erdball, eine Zeit, in der die Mehrheit der Menschen hungerte. Aber selbst damals schrieb der englische Schriftsteller und KritikerKingsley Amis, als er von den Versuchen mit den Ratten erfuhr: »Ich kann nicht behaupten, dass mich das mehr ängstigt als irgend eine Krise um Berlin oder Taiwan; es sollte mich aber, wie ich meine, stärker ängstigen.« Er fürchtete die Zukunft, dieser scharfzüngige, geistreiche Verfasser der »Neuen Karten der Hölle«, und insbesondere sah er voraus, dass es möglich sein werde, das Gehirn zu stimulieren, um ein illusorisches Dasein zu schaffen, das ebenso prägnant oder noch prägnanter wäre als das reale.
Ende des Jahrhunderts, als sich die
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