Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
und schloss die Augen. Schluss, dachte er, aus, sie schaffen es nicht. Er wird sterben. Ein für alle Mal.
»Sektor neunzehntausendnullnullzwei abgeschlossen«, meldete die Stimme. »Sektor neunzehntausendnullnulldrei abgeschlossen … Sektor neunzehntausendnullnullvier …«
Swanzew hatte keine Ahnung, wie das Codieren von Nervenbahnen vor sich ging. Er stellte sich Okada vor, der in totenweißem Licht auf dem Tisch lag, während eine feine Nadel langsam über die Windungen seines freigelegten Gehirns fuhr. Die Impulssignale in Form aneinandergereihter Zeichen wurden dann auf ein langes Band fixiert. Swanzew begriff sehr wohl, dass in Wirklichkeit alles ganz anders war, doch seine Fantasie zeichnete ihm immer und immer wieder das gleiche Bild: die blitzende Nadel, das bloßliegende Hirn, das endlose Band, auf dem sich ein geheimnisvolles Zeichen ans andere reihte: Gedächtnis, Gewohnheiten, Assoziationen, Erfahrungen. Von irgendwoher aber näherte sich lautlos der Tod, zerstörte Zelle für Zelle, Bahn für Bahn, und es galt, ihm zuvorzukommen.
Nein, Swanzew wusste so gut wie nichts über die Codierung von Nervenbahnen. Nur eins war ihm bekannt: dass die Grenzen jener Hirnabschnitte, die für die Denkprozesse zuständig sind, bis zum heutigen Tag nicht hatten abgesteckt werden können. Und dass die »Große Codierung« nur bei absoluter Isolation möglich war sowie unter der Voraussetzung, dass sämtliche irregulären elektrischen Felder kontrolliert wurden. Daher die Kerzen und Fackeln, die Kamele auf der Landstraße, die ausgestorbenen Siedlungen, die dunklen Fenster der Mikrowetteranlagen und die stillgelegten Rolltreppen … Auch wusste Swanzew, dass bislang noch keine Kontrollmethode gefunden war, die den Code nicht verzerrte, dass Casparo teilweise aufs Geratewohl arbeitete und möglicherweise gar nicht das aufzeichnete, was gebraucht wurde. Andererseits war sich Swanzew aber darüber im Klaren, dass die »Große Codierung« den Weg zur Unsterblichkeit des menschlichen Ichs darstellte, denn der Mensch, das waren ja nicht nur Arme und Beine, das war zuallererst sein Gedächtnis, die Fülle seiner Vorstellungen und Angewohnheiten sowie sein Gehirn – das Gehirn!
»Sektor neunzehntausendzweihundertsechzehn abgeschlossen …«
Swanzew öffnete die Augen, erhob sich und ging auf Casparo zu, der einfach dasaß und vor sich hin starrte.
»Professor Casparo«, wandte sich Swanzew an ihn. »Ich bin Ozeanologe und heiße Swanzew. Ich muss mit Akademiemitglied Okada sprechen.«
Casparo hob den Blick und sah Swanzew lange an. Seine Augen waren trübe und halb geschlossen.
»Das ist unmöglich«, erwiderte er.
Eine Zeit lang musterten sie sich schweigend.
»Professor Okada hat sein ganzes Leben auf eine Information gewartet, die ich ihm nun bringe«, erklärte Swanzew leise.
Casparo gab keine Antwort. Er löste den Blick von Swanzew und starrte erneut vor sich hin. Swanzew sah in die Runde. Ringsum war es dunkel. Nur die kleinen Lichtpunkte der Kerzen, die hell schimmernden Kittel und Kapuzen hoben sich davon ab.
»Sektor neunzehntausendzweihundertzweiundneunzig abgeschlossen«, verkündete die Stimme.
Casparo erhob sich und sagte: »Schluss. Es ist zu Ende.«
Da fiel Swanzews Blick auf ein kleines rotes Lämpchen, das auf dem Pult neben den Okularen des Periskops aufleuchtete. Die Lampe zeigt also das Ende an, dachte er.
»Sektor neunzehntausendzweihundertvierundneunzig …«
Aus dem hinteren dunklen Saalende kam atemlos und mit wehendem Kittel ein zierliches junges Mädchen gelaufen. Sie stürzte direkt auf Casparo zu und stieß Swanzew unsanft beiseite.
»Waleri Konstantinowitsch«, stieß sie verzweifelt hervor. »Wir haben nur noch einen einzigen freien Sektor …«
»Nicht mehr nötig«, erwiderte Casparo. Er erhob sich und prallte auf Swanzew. »Wer sind Sie denn?«, fragte er müde.
»Ich heiße Swanzew und bin Ozeanologe«, wiederholte Swanzew leise. »Ich wollte mit Akademiemitglied Okada sprechen.«
»Das geht nicht«, antwortete Casparo. »Professor Okada lebt nicht mehr.«
Er beugte sich über das Pult und betätigte nacheinander vier Hebelschalter. Im Saal flammte grell die Deckenbeleuchtung auf.
Es war schon hell, als Swanzew das Vestibül betrat. Durch die großen Fenster fiel das graue Licht eines nebligen Morgens, doch man konnte spüren, dass jeden Augenblick die Sonne zum Vorschein käme und ein heller, freundlicher Tag anbräche. Im Vestibül war keine Menschenseele. Auf dem Sofa
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