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Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band

Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band

Titel: Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Strugatzki , Arkadi Strugatzki
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lag eine zerknautschte Decke, und auf dem Tisch hauchten zwischen Konservenbüchsen und Tellern mit Essensresten einige Kerzen ihr Leben aus. Swanzew drehte sich zur Treppe um, von wo laute Stimmen zu hören waren. Dort musste sich auch Michajlow befinden, der versprochen hatte, Swanzew zurückzubegleiten.
    Swanzew ging zum Sofa und setzte sich. Drei junge Leute kamen die Stufen herunter. Einer von ihnen trat an den Tisch und begann hastig zu essen. Mit den Händen. Er schob die Teller hin und her, stieß dabei eine Flasche Limonade um, konnte sie aber gerade noch auffangen. Hastig führte er sie an den Mund. Der Zweite schlief im Gehen und riss nur mit Mühe ab und zu die Augen auf. Der Dritte fasste ihn an der Schulter und stützte ihn. Er sprach aufgeregt auf ihn ein: »Casparo hat es Krasnow gesagt. Nur das – kein Wort sonst. Dann ist er erschöpft auf sein Pult gefallen. Wir haben ihn aufgehoben und in sein Arbeitszimmer gebracht, wo bereits Serjosha Kruglow schlief. Dort liegen jetzt beide auf den Pritschen.«
    »Kaum zu glauben«, murmelte der am Tisch. »Haben wir tatsächlich so viel geschafft?«
    »Wenn ich’s dir doch sage, zum Teufel! Achtundneunzig Prozent. Plus einige Zehntausendstel – so genau weiß ich das nicht mehr.«
    »Achtundneunzig Prozent?«
    »Ja doch. Bist du so müde, dass du das nicht verstehst?«
    »Doch, doch, ich verstehe es schon, nur kann ich’s nicht recht glauben.« Der Bursche, der so über das Essen hergefallen war, setzte sich unvermittelt hin und zog eine Konservendose zu sich. »Ich kann es einfach nicht glauben«, wiederholte er. »Ich dachte die ganze Zeit, es stünde schlecht …«
    »Los, Jungs, hauen wir uns aufs Ohr«, knurrte der Dritte schon halb im Schlaf. »Ich habe einfach keine Kraft mehr.«
    Die drei hatten es plötzlich sehr eilig und strebten dem Ausgang zu. Immer neue Menschen kamen die Treppe herunter, zu Tode erschöpft, kaum noch imstande, ein Bein vor das andere zu setzen, gleichzeitig aber irgendwie aufgeregt, mit geschwollenen Lidern und Stimmen, die vom langen Schweigen seltsam belegt klangen.
    Mit einem Begräbnis hat das hier nichts gemein, dachte Swanzew. Er wusste zwar, dass Okada tot war, konnte mit dem Gedanken aber noch nichts anfangen. Ihm war, als sei der alte Professor lediglich eingeschlafen und niemand habe es bis jetzt verstanden, ihn wieder aufzuwecken. Aber auch das würde eines Tages möglich werden. Achtundneunzig Prozent, überlegte Swanzew, das ist nicht schlecht. Er wunderte sich, keinen Gram über den erlittenen Verlust zu spüren. Er fühlte auch keine Trauer. Nur so etwas wie Missbehagen, als er daran dachte, dass es noch sehr lange dauern würde, bis Okada wieder zu ihnen zurückkehrte. So wie früher, wenn er für längere Zeit aufs Festland gefahren war.
    Michajlow tippte ihm auf die Schulter. Er trug jetzt weder Regenumhang noch Kittel.
    »Kommen Sie, Swanzew«, forderte er ihn auf.
    Swanzew erhob sich und folgte ihm zur Tür, die sich lautlos und sacht vor ihnen öffnete.
    Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch es war hell; am graublauen Himmel zogen schnell die Wolken dahin. Swanzew sah auf die flachen cremefarbenen Gebäude zu beiden Seiten der Straße, die mit rötlichem Laub bedeckt war. Die Leute kamen aus dem Institut und traten in Zweier- und Dreiergrüppchen den Heimweg an.
    Eine Stimme rief: »Den Genossen aus Kostroma steht das Gebäude Nummer sechs zur Verfügung, zweite und dritte Etage!«
    In enger Kette bewegten sich kleine vielbeinige Reinigungskyber durch die Straßen und ließen einen trockenen Streifen sauberen grauen Asphalts hinter sich.
    »Möchten Sie Schokolade?«, fragte Michajlow.
    Swanzew schüttelte den Kopf.
    Auf dem Weg zur Chaussee kamen sie an niedrigen gelblichen Gebäuden vorbei, die weder Türen noch Fenster besaßen. Es gab viele solcher Gebäude; sie nahmen fast die ganze Straße ein. Es waren jene mit Quasibiomasse gefüllten Blöcke, die Okadas Hirn beherbergten: zwanzigtausend Sektoren Biomasse, zwanzig kompakte Gebäude, deren Vorderfront jeweils an die dreißig Meter lang war und die sechs Stockwerke tief in die Erde reichten.
    »Für den Anfang ist das schon ganz gut«, meinte Michajlow. »Allerdings können wir nicht so weitermachen. Zwanzig Gebäude für einen einzigen Menschen sind ein bisschen viel. Wenn nun jeder von uns so viel beanspruchen wollte …« Er lachte und ließ die papierne Hülle der Schokoladentafel zu Boden fallen.
    Wer weiß, dachte Swanzew, für dich

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