Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
belletristischen Literatur zu überschreiten, im Gegenteil, wir wollten gern über Menschen und menschliche Schicksale schreiben, über die Abenteuer des Menschen in der Natur und in der Gesellschaft. Außerdem waren wir uns sicher, dass schon heute, jetzt, hier rings um uns Menschen lebten und arbeiteten, die imstande wären, die Lichte, Saubere, Interessante Welt zu bevölkern, in der es keine (oder fast keine) »bleiernen Scheußlichkeiten des Lebens« 24 geben würde.
Es war eine Zeit, da wir aufrichtig an den Kommunismus glaubten, in ihm das höchste und vollkommenste Entwicklungsstadium der menschlichen Gesellschaft sahen. Uns irritierte allerdings, dass in den Werken der Klassiker des Marxismus-Leninismus über diese äußerst wichtige Etappe, de facto also über das Ziel der gesamten Geschichte der Menschheit , so wenig gesagt wurde und dass das wenige so dürftig war und so … wenig überzeugend.
Bei den Klassikern stand, dass der Kommunismus eine klassenlose Gesellschaft sei … Eine Gesellschaft, in der es keinen Staat gibt … Eine Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen … Keine Kriege, keine Armut, keine soziale Ungleichheit …
Aber was gibt es eigentlich in dieser Gesellschaft? Es entstand der Eindruck, in dieser Gesellschaft gebe es nur »eine Fahne, auf der steht: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. 25
Das war uns entschieden zu wenig. Vor unserem geistigen Auge türmte sich glänzend und funkelnd eine kristallin reine, sorgfältig desinfizierte und wunderbar sichere Welt – eine Welt großartiger Gebäude, sanfter und friedlicher Landschaften, imposanter Auffahrtrampen und spiralförmiger Abfahrten, eine Welt von unglaublichem Wohlstand, perfekt eingerichtet, gemütlich und grandios zugleich – doch diese Welt war leer und reglos, wie eine prächtige Dekoration vor dem Schauspiel des Jahrhunderts, das partout nicht anfangen wollte, weil es niemanden gab, der darin mitspielen könnte, und auch das Stück war noch nicht geschrieben …
Schließlich erkannten wir, mit wem man diese glänzende, aber leere Welt füllen musste: mit unseren Zeitgenossen, genauer gesagt, mit den besten unter den Zeitgenossen – mit unseren Nächsten und Freunden, reinen, ehrlichen, guten Menschen, die schöpferische Arbeit und die Freude der Erkenntnis über alles liebten … Natürlich idealisierten und romantisierten wir unsere Freunde ein wenig, doch dafür hatten wir zwei ganz reale Gründe: Erstens liebten wir sie, und zweitens hatten sie das, verdammt noch mal, auch verdient!
Gut, sagten uns unsere zahlreichen Opponenten. Sollen sie also Menschen wie wir sein. Aber warum gibt es sie dort in so überwältigender Menge? Und wohin verschwinden die unübersehbaren Massen der heutigen Grobiane, Schmarotzer, Dünnbrettbohrer, Intriganten, müßigen Schwätzer und grundsätzlichen Ignoranten, die auf ihre Ignoranz stolz sind?
Das ist ja ganz einfach, antworteten wir eifrig. Der Scheitelpunkt der Glockenkurve, nach der die moralischen und sonstigen Qualitäten verteilt sind, wird sich mit der Zeit nach rechts verschieben, wie es, sagen wir, mit der Verteilungskurve der Körpergröße beim Menschen geschehen ist. Es ist gerade mal dreihundert Jahre her, dass die Durchschnittsgröße eines Mannes 140 bis 150 Zentimeter betrug, ein Mann von 170 Zentimetern galt fast schon als Riese, und nun schaut, was heute los ist! Und wo sind alle diese 1,40-Meter-Zwerge geblieben? Es gibt sie natürlich noch, und sie begegnen einem auch heute, aber jetzt sind sie selten, ebenso selten wie Zwei-Meter-Giganten, die es vor drei, vier Jahrhunderten überhaupt nicht gab. Genau so wird es auch mit der Moral sein. Ein guter, ehrlicher, von seiner Sache begeisterter Mensch ist heute verhältnismäßig selten (übrigens ebenso selten wie ein ganz unverbesserlicher Tagedieb und absolut hoffnungsloser Schurke), aber in ein paar Jahrhunderten wird solch ein Mensch die Norm sein, und die Dreckskerle werden zu seltenen Exemplaren – einer unter einer Million.
Schön, sagten die Opponenten. Nehmen wir’s an. Obwohl niemand weiß, ob er sich überhaupt tatsächlich bewegt, euer »Scheitelpunkt der Verteilungskurve der moralischen Qualitäten«, und wenn er sich denn bewegt, nach welcher Seite? Schön, angenommen. Aber was wird diese eure lichte Gesellschaft bewegen? Wohin wird sie sich weiterentwickeln? Aufgrund welcher Konflikte und inneren Widersprüche? Denn Entwicklung ist der Kampf der
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