Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
…«
»Warum sagt er dann, Len wäre da?«, wunderte sich Wusi und drehte sich erneut zur Tür um.
»Len war hier«, erklärte ich. »Er ist weggelaufen, als ich ihm zuwinkte. Er kommt mir ein bisschen scheu vor.«
»Ach, er ist ein sehr nervöses Kind«, sagte Mutter Waina. »Er wurde in einer schweren Zeit geboren, und in den Schulen versteht man es heute überhaupt nicht, mit nervösen Kindern umzugehen. Vorhin habe ich ihm erlaubt, jemanden zu besuchen.«
»Wir gehen jetzt auch«, sagte Wusi. »Und Sie werden mich ausführen. Ich muss nur rasch mein Make-up erneuern, das Ihretwegen ganz verschmiert ist. Und Sie ziehen sich inzwischen etwas Anständiges an!«
Waina wäre nicht abgeneigt gewesen dazubleiben, um noch zu plaudern und vielleicht sogar Lens Fotoalbum zu zeigen, aber Wusi zog sie hinter sich her, und ich hörte sie draußen die Mutter fragen: »Wie heißt er? Ich kann mir den Namen einfach nicht merken … Ein lustiger Typ, nicht?« – »Wusi!«, flüsterte Mutter Waina vorwurfsvoll.
Ich breitete meine gesamte Garderobe auf dem Bett aus und überlegte, wie Wusi sich einen anständig angezogenen Mann vorstellte. Bisher war ich der Meinung gewesen, ich sei durchaus anständig gekleidet. Ich hörte Wusis klappernde Absätze schon ungeduldig im Arbeitszimmer hin und her tänzeln. Dann rief ich sie, weil ich mit meiner Weisheit am Ende war.
»Ist das alles, was Sie haben?«, fragte sie und kräuselte die Nase.
»Ist das denn nicht gut genug?«
»Na ja, es geht. Ziehen Sie die Jacke aus und probieren Sie das Hawaii-Hemd an. Oder besser das da … Himmel, wie man bei Ihnen in Tungusien herumläuft. Nun machen Sie schon. Nein, nein, das Unterhemd müssen Sie auch ausziehen!«
»Was denn, auf den nackten Körper?«
»Und doch sind Sie ein Tunguse. Wo wollen Sie denn hin? Zum Nordpol? Auf den Mars? Was haben Sie da an der Schulter?«
»Eine Biene hat mich gestochen«, sagte ich, während ich mir hastig das Hawaii-Hemd überstreifte. »Gehen wir.«
Draußen war es schon dunkel. Die Neonlampen schimmerten tot im schwarzen Blattwerk.
»Wohin gehen wir?«, erkundigte ich mich.
»Ins Zentrum, natürlich. Fassen Sie mich nicht unter, es ist zu heiß. Sind Sie wenigstens in der Lage, sich ordentlich zu prügeln?«
»O ja.«
»Das ist gut, ich sehe nämlich sehr gern dabei zu.«
»Ich auch …«
Die Straßen waren belebter als am Tag. Überall, unter den Bäumen, zwischen den Sträuchern und in den Toreingängen standen kleine Grüppchen von Menschen, die unruhig hin und her trippelten. Sie rauchten eine knisternde synthetische Zigarette nach der anderen, lachten laut, spuckten abfällig aus und redeten mit groben, lauten Stimmen. Über jeder Gruppe plärrte ein Radio. Unter einer Laterne schepperte ein Banjo, zu dem zwei Halbwüchsige mit vielen Verrenkungen den modernen Flag tanzten und schrille Schreie ausstießen. Ein schöner Tanz, wenn man ihn beherrscht – und die Halbwüchsigen beherrschten ihn. Die ringsum Stehenden stießen ebenfalls schrille Schreie aus und klatschten rhythmisch in die Hände.
»Wollen wir tanzen?«, fragte ich Wusi.
»Auf keinen Fall«, zischte sie, fasste mich am Arm und ging schneller.
»Warum nicht? Können Sie keinen Flag?«
»Ich tanze lieber mit Krokodilen als mit denen da.«
»Wieso«, sagte ich. »Das sind doch ganz normale Jungs.«
»Jeder für sich genommen schon«, erklärte Wusi und lachte nervös. »Tagsüber.«
Sie lungerten an den Kreuzungen, drängten sich unter den Laternen, sie waren plump, stanken nach Tabak und hinterließen Halden von Kippen, Spucke und Bonbonpapier. Sie verzogen ebenso nervös wie melancholisch das Gesicht und blickten mit krummem Rücken begehrlich um sich. Sie wollten auf keinen Fall der übrigen Welt gleichen und ahmten doch einander krampfhaft nach sowie zwei, drei populäre Filmhelden. Es waren gar nicht so viele, aber sie fielen auf, und ich hatte ständig den Eindruck, als wäre jede Stadt und die ganze Welt voll von ihnen – vielleicht deshalb, weil jede Stadt und die ganze Welt ihnen mit Fug und Recht gehörte. Sie schienen mir von einem dunklen Geheimnis umwittert. Ich hatte ja einst selbst so mit Freunden die Abende zugebracht, bis sich kluge Menschen fanden, die uns von der Straße wegholten, und dann hatte ich noch viele, viele Male solche Scharen in allen Städten der Welt gesehen, wo es an diesen klugen Leuten fehlte. Dennoch hatte ich nie ganz begreifen können, was diese Jungs von den guten Büchern
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