Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
sagte Len widerstrebend.
»Der Kerl kann uns egal sein«, sagte ich sachlich. »Du flüchtest ja nicht vor ihm in die Garage!«
»Ich flüchte überhaupt nicht«, widersprach er trotzig. »Das ist bloß so ein Spiel.«
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, zweifelte ich. »Es gibt natürlich Dinge auf der Welt, vor denen sogar ich Angst habe. Zum Beispiel, wenn ein Junge weint und zittert. Ich kann so etwas nicht sehen, da tut mir das Herz weh. Oder wenn man Zahnschmerzen hat, aber aus bestimmten Gründen lächeln muss – das ist schrecklich, wirklich. Und dann diese Dummheit. Wenn sich zum Beispiel Dummköpfe aus Langeweile oder weil sie der Hafer sticht am Hirn eines lebendigen Äffchens delektieren. Das ist nicht nur schrecklich, das ist abstoßend, umso mehr, als sie nicht selbst daraufgekommen sind. Das haben sich schon vor tausend Jahren – ebenfalls vom Hafer gestochen – dicke Tyrannen im Fernen Osten ausgedacht. Die heutigen Dummköpfe hörten davon und freuten sich. Man muss sie also bedauern und darf keine Angst vor ihnen haben …«
»Bedauern …«, sagte Len. »Sie aber bedauern niemanden und machen, was sie wollen. Ihnen ist alles egal, warum verstehen Sie das nicht … Wenn sie Langeweile haben, dann ist ihnen egal, wem sie den Kopf absägen. Dummköpfe … Bei Tage sind es vielleicht Dummköpfe, Sie verstehen das alles bloß nicht, doch in der Nacht nicht, da sind sie verflucht …«
»Wie das?«
»Von der ganzen Welt sind sie verflucht. Sie finden keine Ruhe und werden sie nicht finden. Aber Sie wissen ja nichts. Was kümmert Sie das. Sie sind gekommen und fahren wieder weg … In der Nacht sind es Lebende, am Tag Tote … Leichen …«
Ich holte ihm ein Glas Wasser aus dem Salon.
Er trank es aus und fragte: »Fahren Sie bald weg?«
»Nein, wo denkst du hin«, sagte ich und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Ich bin ja gerade erst angekommen.«
»Darf ich bei Ihnen übernachten?«
»Selbstverständlich.«
»Ich hatte mal ein Schloss, um die Tür zu verriegeln, aber das hat sie mir weggenommen. Warum – das sagt sie nicht …«
»Gut«, sagte ich. »Du kannst bei mir im Salon schlafen. Einverstanden?«
»Ja.«
»Schließ dich dort ein und schlaf, solange du willst. Ich werde durchs Fenster ins Schlafzimmer steigen.«
Er hob den Kopf und sah mich unverwandt an. »Meinen Sie, Ihre Türen ließen sich abschließen? Ich weiß Bescheid. Auch Ihre Türen lassen sich nicht abschließen.«
»Eure lassen sich vielleicht nicht abschließen«, sagte ich bewusst abfällig. »Meine aber werden sich abschließen lassen. Das ist höchstens eine halbe Stunde Arbeit.«
Er lachte unangenehm, wie ein Erwachsener. »Sie haben ja selber Angst. Na gut, das sollte ein Scherz sein. Ihre lassen sich also abschließen, und Sie haben keine Angst.«
»Du bist ein ganz großer Dummkopf«, sagte ich. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich dergleichen nicht fürchte.« Er blickte mich forschend an. »Und das Schloss im Salon will ich für dich reparieren, damit du ruhig schlafen kannst, wo du nun mal so furchtsam bist. Ich schlafe immer bei offenem Fenster.«
»Ich sagte doch«, entgegnete er, »es war ein Scherz.«
Wir schwiegen eine Weile.
»Len«, begann ich, »was willst du werden, wenn du groß bist?«
»Wieso?«, fragte er überrascht. »Ist das nicht egal?«
»Wieso – egal? Ist es dir gleichgültig, ob du Chemiker wirst oder Barmann?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt: Wir sind alle verflucht. Dem Fluch entgeht man nicht. Warum können Sie das nicht verstehen? Das weiß doch jeder.«
»Ach was«, entgegnete ich. »Auch früher gab es verfluchte Völker. Aber dann wurden Kinder geboren, die heranwuchsen und den Fluch aufhoben.«
»Wie?«
»Es würde zu lange dauern, das zu erklären, mein Freund.« Ich stand auf. »Aber ich erzähle es dir bestimmt noch. Nun lauf spielen. Wenigstens am Tag spielst du doch? Na, lauf! Und wenn die Sonne untergeht, kommst du, und ich mache dir dein Bett.«
Er steckte die Hände in die Taschen und schlenderte zur Tür. Dort blieb er stehen und sagte über die Schulter: »Dieses Ding da nehmen Sie lieber aus dem Empfänger heraus. Was meinen Sie wohl, was das ist?«
»Ein Überlagerer«, sagte ich.
»Aber nein. Nehmen Sie es heraus, sonst ergeht es Ihnen schlecht.«
»Warum sollte es mir schlecht ergehen?«, fragte ich.
»Nehmen Sie es heraus«, bat er. »Sie würden nur alle hassen. Jetzt sind Sie noch nicht verflucht, dann würden Sie es sein. Wer hat es
Weitere Kostenlose Bücher