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Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkady Strugatsky
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Unerklärtes gibt. Das stimmt doch alles weder vorn noch hinten. Wir begreifen nicht, was die Wissenschaft zu diesem Punkt meint.«
    Die Wissenschaft in meiner Person war sprachlos. Chlebowwodow hatte mich getroffen, an die Wand gedrückt, zu Boden geschmettert und überrollt. Dafür reagierte Wybegallo prompt.
    »Tjä«, hob er an. »Ich sage doch, dass das ein dankenswertes Vorhaben ist! Es enthält sehr wohl ein Element des Unerklärten, außerdem ist’s eine Initiative von unten. Darum habe ich’s ja auch empfohlen. Mon cher «, sagte er zu dem alten Mann. »Erklär den Genossen mal, wie das bei dir funktioniert.«
    Der alte Mann schoss wie elektrisiert in die Höhe. »Das ist die größte Errungenschaft des Neutronen-Megaloplasmas!«, rief er. »Ein Feldrotor graduiert sich divergenzmäßig entlang dem Spin und verwandelt die Fragematerie dadrinne in spirituelle elektrische Wirbel, aus welchen sich die Antwort-Synekdoche ergibt …«
    Mir wurde schwarz vor Augen. Auf meine Zunge trat ein bitterer Geschmack, die Zähne schmerzten, der verfluchte noble vieux aber redete und redete. Und seine Rede plätscherte dahin wie ein Bächlein. Es war eine raffiniert zusammengestellte, sorgsam einstudierte und nicht zum ersten Mal gehaltene Rede, in dem jede Silbe und jede Intonation emotional aufgeladen war – ein Kunstwerk, und wie jedes echte Kunstwerk ließ es die Zuhörer besser, weiser und bedeutsamer werden, verwandelte es sie und hob sie ein paar Stufen höher. Der alte Mann war kein Erfinder, er war ein Künstler, ein genialer Redner und würdiger Schüler eines Demosthenes, eines Cicero, eines Johannes Chrysostomos … Ich trat taumelnd zur Seite und lehnte die Stirn gegen die kühle Wand.
    Plötzlich klatschte Edik leise in die Hände, und der Alte verstummte. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, Edik habe die Zeit angehalten, denn alle Anwesenden verharrten still, als horchten sie der tiefen mittelalterlichen Stille nach, die nun wie weicher Samt im Raum hing. Dann rückte Lawr Fedotowitsch seinen Sessel nach hinten und stand auf.
    »Von Rechts wegen dürfte ich erst als Letzter sprechen«, erklärte er. »Aber es gibt Fälle, in denen sich das Recht gegen seine Adepten richtet, und dann muss man es beiseiteschieben. Ich spreche als Erster, weil wir es hier mit einem solchen Fall zu tun haben. Ich spreche als Erster, weil ich nicht länger schweigen kann. Ich spreche als Erster, weil ich Wider spruch weder erwarte noch dulde.«
    Von Widerspruch konnte gar keine Rede sein. Die einfachen Mitglieder der Troika hatte dieser unerwartete Anfall von Eloquenz derart verblüfft, dass sie nichts mehr wagten, als sich insgeheim Blicke zuzuwerfen.
    »Wir sind die Hüter der Wissenschaft«, fuhr Lawr Fedotowitsch fort. »Wir sind das Tor zu ihrem Tempel, wir sind die leidenschaftslosen Filter, die sie vor Falschheit, Leichtsinn und Irrtümern bewahren. Wir schützen die Saat des Wissens vor dem Unkraut der Ignoranz und falscher Weisheit. Und solange wir das tun, sind wir keine Menschen – sondern handeln ohne Nachsicht, ohne Erbarmen, ohne Ansehen der Person. Für uns gibt es nur ein Kriterium: die Wahrheit. Die Wahrheit ist jenseits von Gut und Böse, die Wahrheit existiert unabhängig vom Menschen und von der Menschheit, aber nur solange es Gut und Böse gibt, solange es den Menschen und die Menschheit gibt. Wozu ist die Wahrheit gut, wenn es keine Menschen mehr gibt? Wenn niemand mehr nach Wissen strebt und die Menschheit aufhört zu existieren – wozu ist dann die Wahrheit gut? Wenn jede Frage beantwortet wird, braucht man nicht mehr nach Wissen zu streben, und die Menschheit hört auf zu existieren – wozu ist dann die Wahrheit gut?Wenn der Dichter sagt: ›Und keine Antwort stößt auf Fragen‹, beschreibt er den schlimmsten Zustand der menschlichen Gesellschaft – ihren Endzustand. Ja, der Mann, der hier vor uns steht, ist ein Genie. Er verkörpert den Endzustand der Menschheit. Aber zugleich ist er ein Mörder, denn er tötet den Geist. Mehr noch, er ist ein Massenmörder, denn er tötet den Geist der ganzen Menschheit. Und darum können wir nicht länger leidenschaftslose Filter sein, darum müssen wir uns daran erinnern, dass wir Menschen sind, und uns als Menschen vor dem Mörder schützen. Nicht debattieren müssen wir, sondern Gericht halten! Für ein solches Gericht aber gibt es keine Gesetze, und darum dürfen wir nicht Gericht halten, sondern müssen erbarmungslos ahnden – wie das Menschen

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