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Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkady Strugatsky
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sogar der Ellbogen weh. Vorsichtig zog er seine Hand zurück und steckte sie in die Tasche.
    »Wie alt bist du?«, fragte er.
    »Vierzehn«, erwiderte Bol-Kunaz zerstreut.
    »Aha …«
    Jeden anderen Jungen hätte dieses provokante »Aha« gereizt, Bol-Kunaz aber blieb ruhig. Auf Sticheleien reagierte er nicht. Ihn beschäftigte das Verhältnis von Natürlichem und Primitivem in Natur und Gesellschaft. Er bedauerte, an einen so unintelligenten Gesprächspartner geraten zu sein, der obendrein noch einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte.
    Sie erreichten die Präsidentenallee. Hier brannten mehr Laternen, und ab und zu eilten auch Passanten an ihnen vorüber – vom endlosen Regen niedergebeugte Männer und Frauen. Hier gab es erleuchtete Schaufenster und einen von Neonlicht erhellten Kinoeingang, in dessen Schutz sich gleich förmig gekleidete junge Leute in glänzenden, fersenlangen Regenmänteln drängten – ob Mädchen oder Jungs, war nicht zu erkennen. Und aus der Höhe leuchteten durch den Regen hindurch Beschwörungen in Gold und Blau: »Der Präsident – der Vater des Volkes«, »Der Freiheitslegionär – ein treuer Sohn des Präsidenten«, »Die Armee – unser Ruhm und Schutz« …
    Sie gingen noch immer auf der Fahrbahn, bis ein vorbeibrausendes Auto sie mit lautem Hupen auf den Gehsteig trieb und mit schmutzigem Wasser übergoss.
    »Ich hätte dich für achtzig gehalten«, sagte Viktor.
    »Hä?«, quiekte Bol-Kunaz mit widerlicher Stimme, und Viktor lachte erleichtert auf. Bol-Kunaz war eben doch ein richtiger Junge, ein ganz normales Wunderkind, das seinen Gabor, seinen Sursmansor und seinen Fromm gelesen hatte, ja womöglich sogar Spenglers Werke.
    »Als Kind hatte ich einen Freund«, erzählte Viktor. »Der kam auf die Idee, Hegel im Original zu lesen. Und das tat er. Aber er wurde darüber schizophren. In deinem Alter weiß man sicher schon, was Schizophrenie ist.«
    »Ja.«
    »Und, hast du keine Angst?«
    »Nein.«
    Als sie das Hotel erreichten, schlug Viktor vor: »Du könntest mit hineinkommen und deine Sachen trocknen.«
    »Vielen Dank. Darum wollte ich Sie auch gerade bitten. Erstens habe ich Ihnen noch etwas mitzuteilen, und zweitens müsste ich telefonieren. Sie haben doch nichts dagegen?«
    Viktor hatte nichts dagegen. Sie gingen durch die Drehtür, vorbei am Pförtner, der vor Viktor die Mütze zog, an prächtigen Statuen mit elektrischen Kerzen, dann durch die leere, von Restaurantgerüchen erfüllte Hotelhalle. Viktor freute sich schon auf den Abend, an dem er wieder trinken und schwatzen und alles, was ihn heute bedrängte, auf morgen verschieben konnte. Er freute sich auf Yul Golem und Dr. Quadriga. Und vielleicht lerne ich noch jemanden kennen, oder es passiert irgendwas – eine Schlägerei zum Beispiel –, oder mir kommt die Idee zu einem Roman. Zum Essen bestelle ich mir wieder Neunaugen, und wenn alles gut geht, fahre ich mit dem letzten Bus zu Diana.
    Während Viktor den Schlüssel vom Portier holte, entspann sich zwischen Bol-Kunaz und dem Pförtner ein Gespräch.
    »Was suchst du hier?«, zischte der Pförtner.
    »Ich habe etwas mit Herrn Banew zu besprechen.«
    »Dir werd ich helfen – etwas mit Herrn Banew zu besprechen«, zischte der Pförtner weiter. »Du treibst dich in Restaurants rum …«
    »Ich habe etwas mit Herrn Banew zu besprechen«, wie derholte Bol-Kunaz. »Das Restaurant interessiert mich nicht.«
    »Das wäre auch noch schöner, wenn du Grünschnabel dich schon für Restaurants interessiertest. Ich schmeiß dich achtkantig raus …«
    Viktor nahm seinen Schlüssel und drehte sich um.
    »Äh …«, sagte er. Den Namen des Pförtners hatte er wieder vergessen. »Der Junge gehört zu mir, das hat schon seine Richtigkeit.«
    Der Pförtner antwortete nicht, seine Miene aber sprach für sich.
    Sie gingen ins Zimmer hinauf. Erleichtert warf Viktor den Regenmantel ab und bückte sich, um seine nassen Schuhe aufzuschnüren. Dabei stieg ihm das Blut in den Kopf, und er verspürte einen schmerzhaften Stich an der Stelle, wo die Beule saß; sie fühlte sich rund und schwer an wie eine Bleikugel. Er richtete sich wieder auf, lehnte den Rücken an den Türpfosten und streifte einen Schuh ab, indem er mit der Spitze des anderen gegen die Fersenkappe drückte. Bol-Kunaz stand, vor Nässe triefend, neben ihm.
    »Zieh dich aus«, forderte Viktor ihn auf. »Häng alles über die Heizung, ich gebe dir gleich ein Handtuch.«
    »Darf ich telefonieren?«, fragte Bol-Kunaz, ohne sich

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