Gesammelte Werke 6
nach.«
»Eine Schande!«, rief Dr. Quadriga entrüstet. »Fischschup pen! Fischköpfe!«
»Einen doppelten Kognak!«, rief Pavor dem Kellner zu.
Sein Gesicht war regennass, das dichte Haar klebte am Kopf, und von seinen Schläfen flossen glitzernde Rinnsale über die glattrasierten Wangen. Auch er hatte ein markantes Gesicht, um das ihn sicher viele beneideten. Wie kam ein Hygieneinspektor zu so einem Gesicht? Eines, das in Viktor Bilder hervorrief: Nieselregen, Scheinwerferlicht, huschende Schatten auf nassen Waggons. Alles ist glänzend schwarz, keine anderen Farben, keine Unterhaltung, kein Gerede, nur Kommandos, denen sich alles unterwirft. Es müssen nicht unbedingt Waggons sein, Flugzeuge auf der Landebahn tun’s auch. Und kein Mensch weiß, woher er kommt. Die Mädchen werden schwach, die Männer geben sich männ lich – sie recken die Schultern und ziehen den Bauch ein. Golem würde es auch nicht schaden, den Bauch einzuziehen, aber das schafft er nicht, der Bauch ist sicher schon voll. Bei Dr. Quadriga könnte es noch klappen, aber die Schultern kriegt er nicht mehr gerade, dazu geht er schon zu lange krumm: Abends krümmt er sich über den Tisch, morgens krümmt er sich übers Becken, und tagsüber krümmt er sich vor Leberschmerzen. Demnach bin ich hier der Einzige, der den Bauch einziehen und die Schultern recken könnte, aber ich kippe mir lieber, ganz männlich, ein Glas Gin hinter die Binde.
»Sie sind ein Nymphomane«, teilte Dr. Quadriga Pavor traurig mit. »Ein Nixomane, versessen auf Nixen und Nymphen, eine Schlingpflanze.«
»Ach, halten Sie den Mund, Doktor«, brummte Pavor. Er trocknete sich das Gesicht mit Papierservietten ab, knüllte sie zusammen und warf sie auf den Fußboden. Anschließend rieb er sich die Hände ab.
»Mit wem haben Sie sich denn geprügelt?«, erkundigte sich Viktor.
»Den hat ein Nässling vergewaltigt«, lallte Dr. Quadriga und versuchte krampfhaft, mit seinen Augen, die immer wie der zur Nasenwurzel glitten, geradeaus zu sehen.
»Vorläufig mit niemandem«, antwortete Pavor und blickte den Doktor starr an, was dieser jedoch gar nicht bemerkte.
Der Kellner brachte ein Glas Kognak. Pavor leerte es langsam aus und stand wieder auf.
»Ich gehe mich waschen«, teilte er ungerührt mit. »Draußen vor der Stadt versinkt man im Matsch, ich bin total schmutzig.« Dann ging er zur Tür und stieß im Vorbeigehen gegen mehrere Stühle.
»Mit meinem Inspektor stimmt was nicht«, stellte Golem fest und schnipste eine zerknüllte Serviette vom Tisch. »Irgendwas geht in ihm vor, etwas von großer Bedeutung. Sie wissen nicht zufällig, was?«
»Das müssten Sie doch am besten wissen«, antwortete Viktor. »Schließlich inspiziert er nicht mich, sondern Sie. Außerdem wissen Sie doch immer alles. Woher wissen Sie eigentlich immer alles, Golem?«
»Niemand weiß überhaupt etwas«, meinte Golem. »Manche ahnen etwas. Aber das sind nur ein paar – die, die sich wirklich dafür interessieren. Man kann auch nicht fragen: Woher ahnen Sie etwas? Das wäre ein Missbrauch der Sprache. Wer regnet? Wer schneit? Würden Sie Shakespeare verzeihen, wenn er so etwas geschrieben hätte? Na ja, Shakespeare vielleicht, Shakespeare verzeihen wir im Gegensatz zu Banew eine ganze Menge. Hören Sie, Herr Schriftsteller, ich habe eine Idee. Ich trinke meinen Kognak aus, und Sie leeren Ihren Gin. Oder haben Sie schon genug?«
»Golem«, sagte Viktor. »Wissen Sie, dass ich ein eiserner Mensch bin?«
»Ich ahne es.«
»Und was folgt daraus?«
»Dass Sie Angst haben müssen zu rosten.«
»Kann sein. Aber das meine ich nicht. Ich meine, dass ich viel und sehr lange trinken kann, ohne ausfallend zu werden oder sonst wie aus dem Gleichgewicht zu geraten.«
»Ach, so ist das«, sagte Golem und schenkte sich aus der Karaffe nach. »Na schön, darauf kommen wir später noch einmal zurück.«
»Ich kann mich nicht erinnern«, ließ sich nun Dr. Quadriga mit klarer Stimme vernehmen, »ob ich mich Ihnen schon vorgestellt habe, meine Herren? Habe die Ehre: Rem Quadriga, Maler, Doktor honoris causa, Ehrenmitglied … An dich erinnere ich mich«, wandte er sich an Viktor. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen, und dann war da noch irgendwas … Sie aber, verzeihen Sie …«
»Ich heiße Yul Golem«, zischte Golem verächtlich.
»Sehr erfreut. B’ldhau’r?«
»Nein. Arzt.«
»Ch’rurg?«
»Ich bin Chefarzt im Leprosorium«, erklärte Golem geduldig.
»Ach ja!«, fiel es Dr. Quadriga
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