Gesammelte Werke 6
ein Glas, füllte es bis zum Rand voll, reichte es Golem und sagte: »Trinken Sie, und denken Sie an nichts. Wir reden gleich weiter.«
Er stellte das Telefon an und wählte Lolas Nummer. Lola sagte trocken: »Entschuldige die Störung, aber ich will zu Irma und wollte dich fragen, ob du geruhst, dich mir anzuschließen.«
»Nein. Ich geruhe nicht. Ich bin beschäftigt.«
»Sie ist immerhin deine Tochter! Bist du wirklich schon so heruntergekommen …«
»Ich bin beschäftigt!«, bellte Viktor.
»Interessiert dich nicht, was mit deiner Tochter passiert?«
»Lass den Unfug«, befahl Viktor. »Du wolltest sie doch loswerden. Jetzt hast du’s geschafft. Was willst du mehr?«
Lola fing an zu weinen.
»Hör auf.« Viktor zog eine Grimasse. »Irma hat es dort gut. Besser als im besten Internat. Fahr hin, und überzeug dich selbst davon.«
»Du Grobian, du herzloses, egoistisches Schwein«, schimpfte Lola und legte auf. Viktor stieß flüsternd ein paar Flüche aus, stellte das Telefon wieder ab und kehrte an den Tisch zurück.
»Hören Sie, Golem«, begann er. »Was machen Sie mit den Kindern? Wenn Sie dort Ihren Nachwuchs heranziehen, hab ich was dagegen.«
»Was für einen Nachwuchs?«
»Was für einen … Das frage ich Sie!«
»Soviel ich weiß«, antwortete Golem, »gefällt es den Kindern dort sehr.«
»Was Sie nicht sagen … Dass es ihnen dort gefällt, weiß ich selbst. Aber was machen sie dort?«
»Haben sie Ihnen das nicht gesagt?«
»Wer?«
»Die Kinder.«
»Wie sollten sie’s mir sagen, wo sie dort sind und ich hier?«
»Sie bauen eine neue Welt«, erklärte Golem.
»Ah … Ja, das haben sie mir gesagt. Aber das ist doch bloß Philosophie. Warum machen Sie mir schon wieder etwas vor, Golem? Eine neue Welt hinter Stacheldraht? Unter dem Kommando von General Pferd? Und wenn sie sich dort anstecken?«
»Womit?«, fragte Golem.
»Mit der Brillenkrankheit natürlich!«
»Ich sage Ihnen bereits zum sechsten Mal, dass genetische Krankheiten nicht ansteckend sind.«
»Zum sechsten Mal, zum sechsten Mal …«, murmelte Viktor und verlor den Faden. »Was ist überhaupt die Brillenkrankheit? Was tut einem da weh? Oder ist das ein Geheimnis?«
»Nein, darüber gibt es zahllose Veröffentlichungen.«
»Los, erzählen Sie schon. Aber ohne Ihre Fachausdrücke.«
»Am Anfang kommt es zu Hautveränderungen. Pickel und Blasen, besonders an Armen und Beinen, manchmal auch eitrige Geschwüre.«
»Hören Sie, Golem, ist das denn wichtig?«
»Wichtig wofür?«
»Um die Krankheit zu verstehen.«
»Nein. Ich dachte nur, dass Sie das interessiert.«
»Ich möchte bloß die Krankheit verstehen!«, erklärte Viktor eindringlich.
»Das werden Sie sowieso nicht«, entgegnete Golem mit leicht erhobener Stimme.
»Wieso nicht?«
»Erstens sind Sie betrunken …«
»Das ist kein Grund«, widersprach Viktor.
»Und zweitens lässt sie sich gar nicht erklären.«
»Das ist unmöglich«, behauptete Viktor. »Sie wollen es mir nur nicht sagen. Aber ich nehm’s Ihnen nicht krumm. Schweigepflicht, Verrat, Kriegsgericht … Pavor haben sie schon abgeholt. Gott mit Ihnen. Ich verstehe bloß nicht, wieso ein Kind die neue Welt im Leprosorium aufbauen muss. Hat man keinen anderen Platz dafür finden können?«
»Eben nicht«, antwortete Golem. »Im Leprosorium wohnen die Architekten. Und die Lieferanten.«
»Die mit den MPis. Die habe ich schon gesehen. Ich verstehe das nicht. Einer von Ihnen lügt. Entweder Sie oder Sursmansor.«
»Sursmansor natürlich«, antwortete Golem kühl.
»Vielleicht lügen Sie auch alle beide … Ich aber glaube Ihnen beiden, weil Sie so etwas an sich haben … Sagen Sie mir nur eins, Golem: Was wollen diese Leute? Ehrlich.«
»Das Glück«, antwortete Golem.
»Für wen? Für sich?«
»Nicht nur.«
»Und auf wessen Kosten?«
»Diese Frage hat für sie keinen Sinn«, erklärte Golem lang sam. »Auf Kosten des Grases, der Wolken, des fließenden Was sers, der Sterne.«
»Genau wie wir«, meinte Viktor.
»Aber nein«, widersprach Golem. »Ganz und gar nicht wie wir.«
»Wieso nicht? Wir machen es doch auch so.«
»Nein, wir zertreten das Gras, wir lösen die Wolken auf, wir halten das Wasser zurück … Sie haben meine Worte zu eng aufgefasst, ich meinte das im übertragenen Sinne.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Viktor.
»Ich habe Sie gewarnt. Ich verstehe ja selbst nicht alles, aber manches reime ich mir zusammen.«
»Gibt es denn jemanden, der es versteht?«
»Das weiß
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