Gesammelte Werke 6
konnte wunderbar zeichnen (im Bidstrup’schen Stil) und wurde von den anderen Hausgeistern für seine Achtsamkeit und Besonnenheit geschätzt.
Auf dem Weg in den ersten Stock erinnerte ich mich an das Vivarium und marschierte in den Keller hinunter. Der Aufseher, ein schon etwas älterer, freigelassener Vampir namens Alfred, trank Tee. Bei meinem Anblick wollte er die Teekanne unter dem Tisch verstecken, zerbrach dabei ein Glas, wurde rot und schlug die Augen nieder. Mich überkam Mitleid.
»Guten Rutsch ins neue Jahr«, sagte ich und tat so, als hätte ich nichts bemerkt.
Er räusperte sich, legte die Hand vor den Mund und antwortete mit heiserer Stimme: »Vielen Dank. Das wünsche ich Ihnen auch.«
»Alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich und ließ mei nen Blick über Reihen von Käfigen und Verschlägen wandern.
»Briareos hat sich einen Finger gebrochen«, antwortete Alfred.
»Wie kann denn so etwas passieren?«
»Ganz einfach … an seiner achtzehnten rechten Hand. Er hat in der Nase gebohrt und dabei eine ungeschickte Bewegung gemacht – diese Hekatoncheiren sind ja so tolpatschig –, da ist’s eben passiert.«
»Dann müssen wir den Tierarzt holen«, sagte ich.
»Ach, das geht auch ohne! Ist ja nicht das erste Mal.«
»Nein, das können wir nicht machen«, widersprach ich. »Lass uns den Finger mal ansehen.«
Wir gingen ins Vivarium –vorbei am buckligen Pferdchen, das mit der Schnauze im Hafersack vor sich hindöste, vorbei an der Voliere mit den Harpyien, die uns verschlafen beäugten, und dem Käfig mit der Lernäischen Schlange, die zu dieser Jahreszeit mürrisch und ungesprächig war. Die Hekatoncheiren, diese hundertarmigen, fünfzigköpfigen Geschöpfe, Erstgeborene des Himmels und der Erde, lebten in einer großen betonierten Höhle, die mit dicken Eisenstangen verbarrikadiert war. Gyes und Kottos schliefen, zusammengerollt zu einem Knäuel, aus dem nur dunkelblaue, kahlgeschorene Köpfe mit geschlossenen Augen und schwache, behaarte Arme ragten. Briareos schien Schmerzen zu haben. Er hockte dicht am Gitter, stützte die Hand mit dem kranken Finger mit sieben anderen Händen und streckte sie in den Durchgang. Mit den restlichen zweiundneunzig Händen klam merte er sich an die Eisenstangen und lehnte seine Köpfe dagegen. Einige der Köpfe schliefen.
»Was ist?«, fragte ich mitleidig. »Tut’s weh?«
Die Köpfe, die gerade nicht schliefen, murmelten etwas auf Altgriechisch und weckten den Kopf, der Russisch sprach.
»Es tut furchtbar weh«, antwortete der. Die übrigen Köpfe verstummten und starrten mich mit offenem Mund an.
Ich untersuchte den Finger. Er war schmutzig und geschwollen, aber nicht gebrochen; der Finger war lediglich verrenkt. In der Turnhalle kamen wir bei solchen Verletzungen ohne Arzt aus. Ich packte den Finger und zerrte einmal kräftig daran. Briareos jaulte aus allen fünfzig Kehlen und wälzte sich auf den Rücken.
»Na, na, na«, sagte ich, während ich mir mit einem Taschentuch die Hände abwischte. »Ist ja wieder gut.«
Mit schniefenden Nasen begutachtete Briareos seinen Finger. Die hinteren Köpfe reckten neugierig die Hälse und bissen den vorderen ungeduldig in die Ohren, weil sie ihnen die Sicht versperrten. Alfred grinste.
»Man sollte ihn mal zur Ader lassen …«, sagte er mit einem längst vergessenen Ausdruck, seufzte dann und fügte hinzu: »Aber was hat so einer schon für Blut in den Adern – alles bloß Täuschung. Mit einem Wort: ein Monster.«
Briareos stand auf; seine fünfzig Köpfe lächelten selig. Ich winkte ihm noch einmal zu und ging zurück. Beim Unsterblichen Kostschej blieb ich stehen. Dieser Erzgauner be wohnte einen komfortablen Einzelkäfig mit Teppichen, Klima anlage und Bücherregalen. An den Wänden seines Käfigs hingen Porträts von Dschingis Khan, Himmler, Katharina von Medici, einem der Borgias und einem wie Goldwater oder McCarthy. Kostschej selbst stand in einem glänzenden Morgenmantel an einem riesigen Pult, die Beine gekreuzt, und las eine Kopie des »Hexenhammers«. Dabei bewegte er die langen Finger auf unangenehme Art und Weise: Bald schien er etwas festzuschrauben, bald etwas zu zerfetzen, bald stieß er kräftig zu. Kostschej befand sich in unendlicher Untersuchungshaft, während die endlosen Untersuchungen seiner unzähligen Verbrechen im vollen Gange waren. Im Institut hielt man große Stücke auf ihn, weil man ihn nebenbei für ein paar spezielle Experimente sowie als Dolmetscher im Gespräch mit dem
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