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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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war nötig, den Leichnam seiner angebeteten Frau ihrer Mutter zuzuführen, andererseits aber scheute er das allgemeine Vorurteil, das ihm verbot, dies öffentlich zu tun. Neun Zehntel der Passagiere hätten lieber das Schiff verlassen, als dass sie die Fahrt mit einem Leichnam an Bord gemacht hätten.
    In diesem Dilemma ordnete Kapitän Hardy an, der Leichnam solle flüchtig einbalsamiert und mit einer großen Menge Salz in eine passende Kiste gelegt und als Handelsware an Bord geschafft werden. Vom Tod der Frau durfte nichts verlauten; und da es bekannt war, dass Herr Wyatt auch für diese die Überfahrt bestellt hatte, so ergab sich die Notwendigkeit, dass irgendjemand während der Reise ihre Stelle einnehmen musste. Die Zofe der Verstorbenen war leicht dazu zu bewegen. Die Extrakabine, die ursprünglich für dieses Mädchen bestimmt gewesen war, wurde nun des Nachts als Schlafraum für die Pseudofrau benutzt. Bei Tage spielte sie, so gut sie das eben konnte, die Rolle ihrer Herrin – deren Persönlichkeit, wie man sich vorher vergewissert hatte, niemand an Bord bekannt war. Meine eigenen Fehlschlüsse entsprangen, natürlich genug, einem zu oberflächlichen, zu neugierigen und zu impulsiven Temperament. In letzter Zeit aber habe ich nachts nur noch selten einen festen Schlaf. Was ich auch tue – da ist ein Antlitz, das mich verfolgt, und ein hysterisches Lachen, das mir für immer in den Ohren gellen wird.

»Du bist der Mann«
    Ich will jetzt für das Schnatterburger Rätsel den Ödipus spielen. Ich will euch, wie nur ich es vermag, alle Geheimnisse aufdecken, die das Schnatterburger Wunder zustandebrachten – das eine, wahre, anerkannte, unwidersprochene, unwiderlegliche Wunder, das dem Unglauben der Schnatterburger ein für alle Mal ein Ende bereitete und alle Materialisten, die sich vordem als Skeptiker aufspielten, zum orthodoxen Glauben ihrer Großmütter bekehrte.
    Dieses Ereignis, das ich nicht in unangebracht leichtfertigem Ton schildern möchte, trug sich im Sommer des Jahres 18.. zu. Herr Barnabas Schützenwerth, einer der wohlhabendsten und angesehensten Bürger der Stadt, wurde seit mehreren Tagen vermisst, und alle begleitenden Umstände führten zu dem Verdacht, dass ihm irgendwelche Gewalt angetan worden sei. – Herr Schützenwerth hatte Schnatterburg am Samstagmorgen in aller Frühe zu Pferde verlassen, mit der vorher geäußerten Absicht, nach der etwa fünfzehn Meilen entfernten Stadt zu reiten und am Abend desselben Tages wieder heimzukommen. Aber schon zwei Stunden nach dem Fortreiten kehrte das Pferd zurück, und zwar ohne Reiter, auch ohne die Satteltaschen, die ihm beim Ausritt auf den Rücken geschnallt gewesen waren. Dazu war das Tier verwundet und mit Schmutz bedeckt.
    All das rief bei den Freunden des Vermissten natürlich große Bestürzung hervor, und als er am Sonntagmorgen noch immer nicht zurückgekommen war, machte sich die gesamte Einwohnerschaft wie ein Mann auf die Suche.
    Der erste und eifrigste bei der Veranstaltung dieser Nachforschungen war aber der Busenfreund des Herrn Schützenwerth, ein Herr Charles Guterjung, oder, wie er allgemein genannt wurde, »Karlchen Guterjung«. Ich habe nun nie feststellen können, ob es ein wundersames Zusammentreffen war oder ob der Name selbst einen unmerklichen Einfluss auf den Charakter ausübt; Tatsache aber ist, dass es noch nie einen Menschen mit Namen Charles gegeben hat, der nicht ein offener, männlicher, ehrenhafter, gutmütiger und freimütiger Kerl gewesen wäre, mit einer vollen, klaren Stimme, die wohltuend wirkte, und einem Blick, der einem gerade ins Gesicht sah, als wolle er sagen: »Ich habe ein reines Gewissen, fürchte keine Seele und bin ganz außerstande, eine schlechte Handlung zu begehen.« Und so führen alle munteren, sorglosen Herren auf der Bühne mit ziemlicher Bestimmtheit den Namen Charles.
    Karlchen Guterjung hatte, obschon er sich erst seit kaum sechs Monaten in Schnatterburg befand und kein Mensch, ehe er sich hier niederließ, etwas von ihm wusste, es mit leichter Mühe fertig gebracht, die Bekanntschaft aller ehrenwerten Leute im Städtchen zu machen. Da war kein Mann, dem ein schlichtes Wort aus seinem Mund nicht so viel wert gewesen wäre wie tausend Worte anderer, und von den Frauen lässt sich gar nicht sagen, was sie alles getan haben würden, um ihm gefällig zu sein. Und alles das nur, weil er Charles getauft worden war und infolgedessen jenes einnehmende Gesicht besaß, das als »bester

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