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Gesang der Rosen

Gesang der Rosen

Titel: Gesang der Rosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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verstehe dich nicht.«
    »Bedenke, was er fertigbrachte. Einer unserer angesehensten Literarhistoriker – Bonnet, sagtest du doch? – fiel auf ihn herein. Könntest du mir einen einzigen aus der Armee von Schülern, die in einem halben Jahrhundert durch deine oder meine Hände gegangen sind, nennen, dem das zuzutrauen gewesen wäre?«
    Der Lateinlehrer schwieg verdutzt. Das dauerte eine Weile. Jene Armee schien an seinem inneren Auge vorüberzuziehen.
    »Nein«, sagte er schließlich schlicht.
    »Siehst du.«
    »Aber trotzdem: Fälschung bleibt Fälschung, Betrug bleibt Betrug.«
    »Der Junge wird dafür büßen müssen, das ist mir auch klar. Sie werden ihn verfolgen. Und weißt du, wer dabei der Unerbittlichste sein wird?«
    »Bonnet natürlich, der Blamierte.«
    »Ganz richtig.«
    André hielt das nicht mehr länger aus. Er sprang auf und lief davon. Erstaunt blickten ihm die zwei alten Herren nach.
    »Ich werde wahnsinnig«, stammelte André im Laufen immer wieder, »ich werde wahnsinnig.« Und plötzlich brüllte er, denn der Druck in der Brust mußte sich einfach lösen und sich Luft verschaffen: »Ich bin unschuldig! Ich kann doch nichts dafür!«
    Und er hetzte weiter, da sich auf seinen Schrei hin einige Fenster öffneten, er rannte durch die Straßen, als verfolge ihn leibhaftig der Irrsinn, und sank erst auf sein Bett in der bescheidenen, dunklen Herberge im Quartier Latin zur Ruhe nieder. Er vergrub das Gesicht ins Kissen und schluchzte haltlos, weinte sich seinen Schmerz und seine jagende Angst aus dem Herzen, während sich seine Hände in der Decke festkrallten. Erschöpft schlief er endlich ein.
    Spät in der Nacht erwachte er kraftlos und zerbrochen aus einem bleiernen Schlummer. Draußen schien der Mond. Wände und Möbel in dem engen Zimmer waren nur schattenhaft zu erkennen. Mit offenen Augen lag der Junge auf seinem Bett, starrte empor zur Decke. Unendlich langsam nahte der Morgen.
    »Diese Dämmerung kenne ich«, sagte André leise und strich sich über die Stirn. »In der alten Kapelle … bei dem stummen Ritter mit der Fahne an der Wand … Wie sagte er doch, der Weise, der das Leben zu kennen schien und uns seine wichtigste Einsicht hinterließ:
    Verachte die Welt,
verachte niemanden,
verachte dich selbst,
verachte, daß du verachtet wirst.«
    Mit trockenem Mund verstummte André. Welch schrecklicher Spruch, dachte er, welche Lebensverneinung! Die Tiefe seiner Sehnsucht, die Grenzenlosigkeit seiner Welt, das Ideal seines Geistes sah er zusammenschrumpfen zu jenen vier Zeilen eines uralten Lateins, die er belächelt hatte und nicht hatte akzeptieren wollen noch können, da er das Leben gesehen hatte mit den Augen eines Gläubigen an das Recht der Natur.
    Gequält von einem furchtbaren Krampf in der Brust, fühlte er, wie seine Welt, seine lichte, weite, jubelnde Welt zerfallen und zusammengebrochen war, wie sie immer noch mehr zerfiel und ihn, den Träumer, den Verfechter der Ideale mit sich hinabriß in das Dunkel der Hoffnungslosigkeit.
    Langsam füllten sich seine Augen wieder mit Tränen. Sie liefen ihm an den Seiten der Wangen herunter und netzten das Kissen. Der Körper zuckte, Fledermäuse huschten draußen am Fenster vorbei. Fledermäuse mitten in Paris, das hätte einem anderen Anlaß zu überraschten Betrachtungen geben können; einem anderen, ja, nicht aber dem tränenblinden André, der die Tiere gar nicht sah, da sein Geist weit weg war.
    »Was habe ich gesagt, als ich dich verließ?« flüsterte er und starrte in die Schatten der Dämmerung, aus denen sich das abblätternde, verfallende Mosaikbild des Ritters in der alten Krypta schälte. »Ich sagte: Ist dieses Leben wert der Liebe, edler Ritter, ist dein Spruch nur eine Lüge. Doch hast du recht, so kehre ich zu dir zurück und beuge mich dem Rat, den du über Jahrhunderte hinweg für uns aufbewahrtest: spernere se sperni – verachte, daß Du verachtet wirst! Sagte ich so, mein Ritter? Die Welt nennt mich Betrüger, doch dich betrüge ich nicht. Du hattest mein Wort – und dieses Wort hast du nun gewonnen. Die Welt … ach, soll ich noch von ihr und ihrer Schönheit sprechen? Das Leben und die Liebe … gibt es Bittereres? Ich bin nun ausgestoßen, vogelfrei, gemieden wie ein von der Pest Befallener. Und warum? Weil ich der Welt mehr gab, als sie erwarten konnte. Verachtung, sagst du … lieber Freund, Verachtung schließt noch ein Interesse ein … doch diese Welt ist es nicht einmal wert, daß man sich für sie überhaupt

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