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Gesang des Drachen

Gesang des Drachen

Titel: Gesang des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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selben Moment löste sich die Welt um Naburo auf.

11.
    Der größte Schatz
     
    Unter Wasser war alles klarer.
    Wenn Marcas in den Fluss eintauchte, fiel all die Unbeholfenheit ab, die er an Land spürte. Er gehörte in diese Welt und verstand ihre Regeln. Im Wasser musste er mit niemandem reden, nichts erklären. Er war nur ein weiterer Bewohner des Flusses, der sein Leben lebte und irgendwann in ihm aufgehen würde, so wie alle anderen.
    Er hatte die Nacht unter einem Felsen in einer kleinen Bucht verbracht. Am Morgen hatte er Krebse gefangen und gegessen. Ihr Fleisch schmeckte roh viel besser als gekocht, aber als er seinen Freunden einmal davon erzählte, hatten sie geantwortet, das sei eklig. Wieder so ein Wort, dessen Bedeutung er nur erahnen konnte.
    Die Fische spürten, dass er nicht hungrig war, und spielten mit ihm, als er in die Flussmitte zurückkehrte. Mal jagte er sie, dann ließ er sich von ihnen jagen. Er war schneller als die meisten von ihnen, doch ab und zu schwamm er absichtlich langsamer, damit sie gewannen. Sonst machte das Spiel keinen Spaß. Er konnte sehen, welche von ihnen alt oder krank waren, doch da er an diesem Tag nicht auf Beute aus war, achtete er kaum darauf.
    Erst am Nachmittag fiel ihm wieder ein, weshalb er sich auf den Weg den Fluss hinunter gemacht hatte.
    Die Kinder, dachte er mit einem Stich des schlechten Gewissens. Wenn er im Wasser war, vergaß er oft, dass es über ihm eine zweite, kompliziertere Welt gab. Die Dinge, die sich dort abspielten, verwirrten ihn, aber der Fluss war ein Teil von ihr, und damit war er das auch.
    Doch nicht sie, sondern er selbst hatte sich die Aufgabe gestellt, die er fast einen Tag lang vergessen hatte. Er musste sie erfüllen.
    Die Fische begleiteten ihn eine Weile, aber als sie erkannten, dass er nicht mehr mit ihnen spielen wollte, schwammen sie zurück. Marcas würde wieder auf sie treffen, ob als Beute oder Freunde, würde sich zeigen.
    Die Strömung zog ihn seinem Ziel entgegen. Er hatte die Kinder der Menschen und Elfen vor wenigen Tagen in einer Höhle nahe dem Ufer entdeckt. Einige von ihnen hatten Eimer mit Wasser gefüllt, während Frauen mit weißen Kopftüchern sie beobachteten.
    Marcas hatte sich zwischen dem Schilf, das dort wuchs, versteckt und ihnen zugesehen. Er wusste nicht viel über Kinder, glaubte aber trotzdem, dass die Stille, mit der sie ihrer Arbeit nachgingen, ungewöhnlich war. Wenn Fische spielten, dann doch sicherlich auch Kinder. Aber er sah niemanden, der von anderen gejagt wurde oder sich jagen ließ, und die einzigen Laute, die er hörte, waren kurze Anweisungen der Frauen mit den weißen Kopftüchern.
    Zu dieser Höhle kehrte Marcas nun zurück. Als er dort eintraf und den Kopf aus dem Wasser hob, sah er kein einziges Lebwesen. Das Ufer war verwaist, nur einige Fußabdrücke im Sand wiesen darauf hin, dass sich jemand in der Nähe aufhielt. Marcas schwamm näher heran und versteckte sich im Schilf. Kleine, bunte Vögel flatterten empor und warnten einander mit hellen Rufen, aber nach einem Moment verstanden sie, dass ihnen keine Gefahr drohte, und ließen sich wieder nieder.
    Vom Ufer führte ein Weg, der breit genug für einen Karren war, bis zur Höhle. Marcas erkannte den oberen Rand des Eingangs zwischen den grün bewachsenen Felsen, den Rest verbargen Farne. Um herauszufinden, was in der Höhle geschah, würde er das Wasser verlassen müssen.
    Marcas zögerte. Er hatte keine Angst – auch das war ein Gefühl, das er nur unzureichend verstand –, aber das Laufen fiel ihm in letzter Zeit schwer. Etwas in seinem Körper schien sich zu verschieben, zu verändern. Er glaubte nicht, dass es eine Krankheit war, doch fragen konnte er niemanden danach, denn es gab in ganz Cuan Bé keinen wie ihn.
    Ich werde einfach abwarten, dachte er.
    Mit seinen Tentakeln hievte er sich an den Schilfhalmen vorbei auf den weichen Ufersand. Eine Brise kühlte seine Haut; er atmete warme, trockene Luft. Sie schmeckte nicht süß wie der Fluss, sondern hart und metallisch wie Eisen. Am liebsten wäre er ins Wasser zurückgekehrt, aber er zwang sich dazu, seine Tentakel unter den Körper zu schieben und weiterzugehen.
    Am Ufer war es still. Marcas hörte nur das Zirpen der Insekten und gelegentlich den Flügelschlag eines Vogels, aber keine Stimmen. Er fragte sich, ob die Kinder die Höhle vielleicht schon verlassen hatten. Abseits des Weges war der Boden zwar weich, aber auch bedeckt von kleinen Zweigen und Wurzeln, die in seine

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