Gesang des Drachen
Haut stachen. Die Farne rund um die Höhle wuchsen mehr als mannshoch. In ihrem Schatten fühlte sich Marcas sicher.
Nach einer Weile sah er den Höhleneingang. Die Pflanzen, die dort einmal gestanden hatten, waren abgeschlagen worden. Er sah noch die braunen, faulenden Stümpfe. Es gab keine Deckung, nur nackten Stein und ein breites Loch, das aussah, als sei es von einer gewaltigen Faust in den Fels geschlagen worden. Dahinter glomm ein diffuses Licht, das flackerte und waberte.
Fackeln oder Kerzen, dachte Marcas.
Er blieb stehen. Der Gedanke, ganz allein und schutzlos die Höhle zu betreten, bereitete ihm Unbehagen. Vielleicht war dies das Gefühl, das die anderen Angst nannten. Trotzdem trat er langsam aus den Schatten heraus und ging auf den Eingang zu. Die Luft, die ihm entgegenschlug, roch modrig und nach Rauch. Der Fels unter seinen Tentakeln war kühl.
Hinter dem Eingang führte ein breiter Gang tiefer in die Höhle hinein. An den Felswänden standen große Fässer und aufeinandergestapelte, kleine Kisten. Marcas klopfte gegen ein paar. Sie waren voll, wirkten aber leicht.
Vorräte?, fragte er sich.
Im nächsten Moment schreckte er zusammen. Schritte hallten durch die Höhle, nicht nur von einer Person, sondern von vielen. Er warf einen Blick zurück zum Eingang, aber der war fast einen Steinwurf entfernt, zu weit, um noch rechtzeitig dorthin zu gelangen und sich zwischen den Farnen zu verstecken.
Rasch kamen die Schritte näher. Eine Frauenstimme sagte etwas, das er nicht verstand, dann hörte er das Singen hoher Kinderstimmen. Die Melodie klang feierlich, fast schon getragen, aber sie wurde nicht von Worten begleitet.
Marcas sah sich um. Wenn er nicht fliehen konnte, musste er sich verstecken. Er entdeckte eine Lücke zwischen einigen Fässern auf der anderen Seite des Gangs und watschelte darauf zu. Die ersten Schatten fielen bereits in den Gang, als er in die Lücke schlüpfte, eines der Fässer davor zog und sich duckte. Er hielt den Atem an.
Es gab nur noch einen schmalen Spalt, durch den er in den Gang blicken konnte. Kinder tauchten dort in Zweierreihen auf. Sie hielten sich an den Händen und gingen im Gleichschritt. Ihre Augen richteten sie nach vorn, kein Kind sah das andere an, und ihre Gesichter wirkten so leer wie die von Statuen.
Marcas konnte nur einen kurzen Blick auf jedes einzelne erhaschen, aber die Aura, die sie umgab, war bei allen gleich: ein blasses Grau, schwach, beinahe leblos.
Diese Kinder fühlen nichts, dachte er. Und sie wollen nichts.
»Stille und halt!«, sagte eine Frauenstimme. Marcas konnte die Sprecherin nicht sehen, aber als die Kinder verstummten und ihre Schritte verhallten, hörte er Stoff rascheln und dann die Stimme einer zweiten Frau.
»Warum lässt du sie anhalten?«, fragte sie. »Die nächste Stunde sieht körperliche Ertüchtigung vor.«
»Ich weiß«, sagte die erste Stimme. Sie klang nervös. »Ich bin mir nur nicht mehr sicher, wann sie das letzte Mal gegessen haben.«
Durch den Spalt sah Marcas zwei der Kinder, die vor ihm angehalten hatten. Es waren zwei Elfenmädchen mit leuchtend grünen Augen und Hornansätzen auf der Stirn. Sie reagierten nicht auf die Erwachsenen, starrten nur stumm vor sich hin.
Wie ein Werkzeug, das erst in der Hand seines Benutzers zum Leben erwacht, dachte er.
»Ist das dein Ernst?«, fragte die zweite Frau. »Du musst doch jede Mahlzeit vermerken.«
»Ich habe es einfach vergessen, okay?«
Das Wort verriet, dass sie ein Mensch war. Elfen – außer Peddyr – benutzten »Okay« nicht.
»Wahrscheinlich ist alles in Ordnung«, fuhr die Stimme fort. »Es ist höchstens drei, vier Stunden her.«
»Oder fünf?«
Schweigen. Dann seufzte die zweite Frau. »Wir bringen sie zurück. Mir ist das Risiko zu hoch.«
»Das ist wohl besser. Du wirst doch nichts ver...« Die erste Frau konnte den Satz nicht zu Ende bringen, denn ihre Begleiterin rief bereits: »Achtung, Kinder! Umdrehen!«
Die Mädchen vor Marcas ließen einander los und befolgten den Befehl. Nun richteten sie ihren ausdruckslosen Blick in die Höhle.
»Marsch!«
Die Mädchen verschwanden aus Marcas' Gesichtsfeld. Andere Kinder rückten nach und zogen an ihm vorbei. Ihr Gleichschritt verlor kurz den Rhythmus, als eine Menschenfrau sich zwischen ihnen hindurchschob und eine Kiste von einem Stapel auf der anderen Seite des Gangs zog.
Die Schritte wurden leiser. Die Menschenfrau – sie war jung, hatte dunkles Haar und wirkte stämmig – sah sich kurz um,
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