Gesang des Drachen
näher kam, verstummten die Schreie.
Es dauerte nicht lang, bis Naburo Spyridon gefunden hatte.
Kopfschüttelnd betrachtete er das Massaker, das Spyridon unter den Grulims angerichtet hatte. »Falls Alberich bisher Schwierigkeiten gehabt haben sollte, dir zu folgen, hat sich das nun erledigt. Selbst ein Unfähiger findet diese Spuren.«
Spyridon antwortete nicht. Er zitterte am ganzen Körper. »Weiter«, presste er hervor. »Ich muss ... weiter zum ...«
Naburo erschrak, während er ihn betrachtete. Die Adern in Spyridons Gesichtshaut zogen sich wie dunkle Sprünge dahin. Wortlos ging er neben dem Ewigen Todfeind her, dem Vulkan entgegen. Das Feld mit den Toten blieb hinter ihnen zurück.
Spyridon stellte keine Fragen, wie Naburo entkommen war. In seinen Augen glänzte Fieber.
»Wie geht es dir?«, fragte der General.
Er erhielt keine Antwort. Spyridon hatte den Arm ausgestreckt und berührte etwas Unsichtbares, was nur in seiner Vorstellung existierte.
Naburo unternahm zwei weitere Anläufe, ein Gespräch mit Spyridon zu führen, ehe er es aufgab. Der Ewige Todfeind hatte sich in eine Art Zombie verwandelt, der sich weder nach links noch nach rechts umsah. Einmal musste Naburo ihn packen, damit er nicht schnurstracks in eine Spalte lief.
Naburo zweifelte nicht daran, dass der Fluch Spyridon irgendwie aus dieser Falte gerettet hätte; trotzdem folgte er seinen Schutzinstinkten.
Sie stiegen den Berg hinauf. Der Wald veränderte sich. Mannshohe Pilze schossen in die Höhe und bildeten ihr eigenes, bizarres Pflanzenmeer.
Als die Nacht kam, rasteten sie einige Stunden. Länger hielt es Spyridon nicht aus. Im Dunkeln setzten sie ihren Weg fort. Einzig Spyridons Aura leuchtete schwach und beschien das Unterholz und den Wildwechsel, dem sie folgten.
Die Sonne stieg hinauf, und Spyridon wurde immer unruhiger. Er murmelte nun vor sich hin. Zunächst verstand Naburo nicht, was er sagte. Erst bei einer der vielen Wiederholungen begriff er den Sinn.
»Wo-ist-der-Weg-der-Weg-der-Weg ...«
Spyridons Stimme verlor sich in einem raschelnden Wispern, das wie Wind klang, der durch totes Laub fuhr. Er wirkte mehr und mehr wie ein Seelenschatten, ausgezehrt und leer, der durch die Wälder wandelte, zum ewigen Geisterdasein verflucht.
Sie gingen mehrfach im Kreis. Es gab eine markante Stelle mit zwei hüttengroßen Steinpilzen, an der Naburo es erkannte. Er fragte sich, was geschehen würde, falls der Fluch wider Erwarten nicht stark genug für die Entdeckung Cuan Bés war. Würden sie im dichten Nebel auf der Flanke des Berges umherirren, bis das Reich Innistìr verging und alle Grenzen fielen?
Obwohl er sich wünschte, dass Spyridon nicht auf der Seite des Schattenlords kämpfte, wollte er zugleich kein Gefangener werden, zum endlosen Suchen verdammt.
Das einzig Gute an der derzeitigen Situation war, dass Naburo viel Zeit hatte, an Hanin zu denken. Er wollte sie wiedersehen, um sie in seine Arme zu schließen, ihr Haar zu riechen und das Schlagen ihres Herzens an seiner Brust zu fühlen.
»Da entlang!«, sagte Spyridon mit plötzlicher Klarheit, ganz ohne zu nuscheln. Er schritt so rasch aus, dass Naburo rennen musste, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Der Nebel lichtete sich vor ihnen. Sie traten an einen Abgrund heran. Der Fels fiel unvermittelt ab. Der Grund verlor sich in Dunkelheit. Es musste mehrere Meilen nach unten gehen. Naburo stieß einen überraschten Ruf aus. »Ich hätte nie gedacht, dass wir so weit hinaufgegangen sind. Das kann nicht stimmen ...«
»Wir sind gleich wieder unten.« Spyridon spannte die Muskeln. »Wir springen.«
»Hat der Fluch dir endgültig den Verstand geraubt? Willst du den kürzesten aller Wege nehmen?« Er konnte ein Stück durch die Luft fliegen, doch ohne Erde oder Wasser unter den Fußsohlen ließen seine Kräfte rasch nach. »Wir werden außen herum gehen.«
»Du verstehst nicht«, sagte Spyridon emotionslos. »Das ist der magische Schutz. Wir konnten es durch den dichten Nebel nicht sehen – dies ist der Vulkan. Das Ziel ist nah. Wir müssen springen, doch wir werden nicht fallen.«
»Das kann sein.« Naburo zögerte. »Aber vielleicht besteht die Falle gerade darin, dass wir nur glauben, an einem Schutzwall zu stehen. Es könnte eine Illusion sein. Was, wenn wir springen und hinunter in die Tiefe rasen?«
»Du grübelst zu viel, General.« Spyridon nahm Anlauf.
Naburo griff nach ihm, doch der Stoff des Umhangs streifte seine Fingerkuppen und glitt vorüber.
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