Gesang des Drachen
Gläubigen, und die Unsicherheit über das, was die Zukunft bringen würde, sorgte dafür, dass die meisten ihre wenigen Münzen zusammenhielten und abwarteten. Schon bald, da war sich Rimmzahn sicher, würde der Markt verwaist sein.
»Ich werde hier einen Tempel errichten«, sagte er. In seiner Vorstellung sah er ihn bereits. Düster und mächtig ragte er zwischen den Hütten auf, tauchte sie alle in seinen Schatten. »Es ist würdelos, dass die Gläubigen ihren Herrn unter freiem Himmel preisen müssen. Wir haben genügend Leute und ausreichend Material, um das größte Gotteshaus, das diese Welt je gesehen hat, zu errichten. Wenn die magische Barriere erst einmal gefallen ist, werden Pilger von überall herbeiströmen, um sich dem Schattenlord hier zu unterwerfen.«
»Was für eine wundervolle Vision«, sagte Maurice. Er klang begeistert. »Der Tempel wird der Mittelpunkt unserer neuen Welt sein. Jeder, der ihn besucht, wird die Liebe des Schattenlords am eigenen Leib spüren.« Er dachte einen Moment nach. »Wir könnten eine Inschrift über der Tür anbringen, vielleicht ein Zitat aus der Bibel wie Der Herr ist mein Hirte, mir wird es an nichts mangeln. Die meisten hier sind zwar Analphabeten, aber ...«
»Der Schattenlord ist kein Hirte«, unterbrach ihn Rimmzahn. Ärger stieg plötzlich in ihm auf. »Er ist ein Feldherr, der seine Feinde mit Feuer und Schwert niedermäht, bis niemand mehr steht, der sich ihm widersetzen könnte. Wir lieben, preisen und fürchten ihn, weil alles andere Selbstmord wäre.«
Der Ärger verschwand so schnell, wie er aufgekommen war. Der Schweizer blinzelte überrascht. Er verstand nicht, wieso er das gesagt hatte.
Weil es die Wahrheit ist, flüsterte der Zweifler in ihm, den er tief in seine Seele gesperrt hatte.
Maurice starrte ihn mit offenem Mund an.
Rimmzahn räusperte sich. »Entschuldige, ich bin ein wenig müde. Für seine Anhänger ist er natürlich ein Hirte, und sie sind die Herde, die sich seiner weisen Führung anvertraut. Sehr schöne Inschrift. Sollten wir machen.«
Er drehte sich um und ging den Weg hinauf. Der Schattenelf neben ihm war auf einmal deutlicher sichtbar als zuvor.
»Es freut mich, dass sie dir gefällt, Norbert«, sagte Maurice, der eilig zu ihm aufholte. »Wenn du möchtest, kann ich dir bei den Bauplänen für den Tempel helfen. Ich kenne mich ein wenig mit Architektur aus.«
»Ich werde das in Betracht ziehen.« Rimmzahn hatte seine Fassung zurückgewonnen, aber er merkte, dass Maurice ihn aus den Augenwinkeln nervös ansah. »Du verstehst das vielleicht noch nicht, weil du neu in unserem Glauben bist«, fuhr er fort, »aber der Schattenlord muss hart gegen seine Gegner vorgehen. Unser aller Leben hängt davon ab, dass wir den Kampf um die Vorherrschaft im Krater gewinnen. Dafür wird kein Hirte gebraucht, sondern ein Feldherr.«
»Ein allmächtiger Gott wie er muss alle Rollen spielen können«, sagte Maurice.
Es überraschte Rimmzahn, wie schnell er das verstanden hatte. Die meisten Gläubigen stützten sich auf die menschliche Definition von Liebe und erkannten nicht, dass Hass manchmal die größere Liebe war. Ihnen das zu verdeutlichen war eine der schwierigsten Aufgaben in seinem Leben als Prophet. »So ist es«, sagte er.
Es war richtig, ihm zu vergeben, dachte er. Maurice war der Einzige, der ihm intellektuell zumindest nahekam, und wenn er ehrlich zu sich war, hatte er ihre Gespräche vermisst.
»Ich will, dass du meine rechte Hand wirst«, sagte er spontan.
Maurice blieb abrupt stehen. In seinem Gesicht spiegelten sich Verwunderung und ungläubige Freude wider. »Norbert ...«, sagte er überwältigt.
Rimmzahn lächelte. »Du bist der Richtige. Der Schattenlord flüstert es mir zu.«
Maurice ging vor ihm auf die Knie. Eine Träne rollte über seine Wange. Er ergriff Rimmzahns Hand und küsste sie. »Gepriesen sei der Schattenlord«, sagte er mit belegter Stimme, »ebenso wie deine Güte und Weisheit.«
Amen, dachte Rimmzahn.
16.
Eine schwere Entscheidung
Knapp sieben Tage nach der Flucht.
Deochar kauerte auf einem Felsvorsprung in einer Aushöhlung der Gangdecke. Zusammen mit Taria, Jardock und zwei anderen Iolair wartete er. Ein Illusionszauber schützte sie vor Entdeckung. Inzwischen brannten Deochar die Armmuskeln, weil er einen Großteil seines Körpergewichts damit halten musste. Er sah bewundernd und ein wenig neidisch zu Taria, die mehr denn je wie ein Schmetterling aussah, der an einer Felswand hing.
Kommt
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