Geschenke aus dem Paradies
will uns ein sehr großzügiges Angebot machen. Schenken Sie ihm bitte Gehör!«
»Es ist bestimmt nicht richtig, dass der Vorsitzende bereits eine Entscheidung getroffen hat, bevor wir den Vorschlag auch nur gehört haben«, murmelte Vivian Nel zu. »Verstößt das nicht gegen die Satzung?«
»Keine Ahnung«, flüsterte Nel. »Ich habe die Satzung nie gelesen.«
Viv seufzte. »Ich auch nicht.«
Sie lehnten sich zurück, um zuzuhören, wie Gideon Freebody von Trockenlegung sprach. Erst als es um den Zugang zum Fluss ging, wurde Nel wirklich aufmerksam. Aber so sehr sie sich bemühte, sie konnte den Mann nicht verstehen. Dann wurde ihr klar, dass er sich mit Absicht nebulös ausdrückte; die Ausschussmitglieder sollten ihn gar nicht verstehen.
Nel hatte niemals eine richtige Berufsausbildung gemacht. Sie hatte Jobs gehabt, wie sie für eine Achtzehnjährige passend waren, aber dann hatte sie geheiratet. Während der Jahre als verheiratete Frau und später als Witwe hatte sie dann mehr und mehr Verantwortung in den Teilzeitjobs bekommen, in denen sie gearbeitet hatte, aber der Aufbau des Bauernmarkts war das einzige halbwegs professionelle Unternehmen, an dem sie sich je versucht hatte. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie unerfahren und unausgebildet war. Sie war daran gewöhnt, bei Sitzungen zu sprechen, bei denen nur die Mitglieder des Ausschusses zugegen waren, aber es war etwas vollkommen Neues für sie, gegen feindselige Leute von außerhalb die Stimme zu erheben. Dennoch konnte sie es sich nicht leisten, etwas falsch zu verstehen. Sie machte sich Notizen. Sie hörte aufmerksam zu und las die Notizen ihrer Nachbarn, wo sie nur konnte. Jetzt versuchte sie zu begreifen, was Gideon Freebody über die Erlöse sagte. Er erklärte gerade, warum das Hospiz irgendwie viel mehr bekommen würde, als das Haus selbst und das Land wert waren, als Nel eine ihrer besonderen Fähigkeiten einsetzte: Sie konnte auch auf dem Kopf stehende Texte lesen.
Diese Fähigkeit hatte sie bei Elternabenden entwickelt. Sie wusste nicht einmal, dass sie es konnte, bis sie eines Tages las, was der Lehrer wirklich von ihrem Kind hielt, während sie gleichzeitig der Version lauschte, die man offensichtlich für elterliche Ohren für geeigneter hielt. Obwohl sie keineswegs alles erkennen konnte, konnte sie jetzt doch immerhin einige Stellen lesen, an denen Gideon Freebody sich Notizen gemacht hatte. Sie hatte es nicht einmal absichtlich getan. Sie sah lediglich in seine Richtung und versuchte verzweifelt, seine Doppeldeutigkeiten zu dechiffrieren, als sie die Papiere bemerkte, die vor ihm lagen. Sie war davon überzeugt, dass sie ausgestrichene Zahlen sehen konnte, die durch andere Zahlen ersetzt worden waren.
Es war so frustrierend, dass sie diese Notizen nicht besser lesen konnte, und sie fragte sich, ob sie womöglich das waren, wofür sie sie hielt. Denn wenn sie sie von ihrem Platz aus beinahe lesen konnte, was sollte die Leute daran hindern, die neben Gideon Freebody saßen? Dann begriff sie; die Leute, die in seiner Nähe saßen, brauchten die Zahlen wahrscheinlich nicht heimlich zu lesen. Sie wussten wahrscheinlich, ob sie eigens für diese Sitzung geschönt worden waren, denn links von Gideon Freebody saß sein Handlanger, und auf der anderen Seite saß Chris Mowbray, der Vorsitzende des Ausschusses.
Nach dem Stapel Blätter in seiner Hand zu urteilen, würde Gideon Freebody sein Traktat nicht in absehbarer Zeit zu Ende bringen. Nel schrieb eine hastige Notiz für Viv. Ich werde aus taktischen Gründen in die Damentoilette gehen. Pass gut auf, dass du alles aufschreibst, was wichtig ist.
Viv nickte, und Nel stand auf. Als sie den Tisch des Vorsitzenden erreicht hatte, ließ sie ihre Handtasche fallen. Während sie den Inhalt auflas, der ziemlich peinlich war, sorgte sie dafür, dass sie Gideon Freebodys Notizen genau studieren konnte. Niemandem fiel etwas auf, davon war sie überzeugt. Für sie war sie nur ein törichtes, ungeschicktes Frauenzimmer, das zu viel Krimskrams mit sich herumtrug. Der Vorsitzende gab sich besonders herablassend, als er ihr eine sehr schmuddelige Haarbürste reichte, deren Griff von mehreren Hunden angekaut worden war. Nel lächelte süß und ging weiter, aber wie sie zu ihrer Freude feststellte, hatte Gideon Freebody auf dieses Lächeln reagiert. Vielleicht verstand die Verkäuferin mit dem weißen Lippenstift ja doch ihren Job.
Nel blieb der Sitzung so kurze Zeit fern, wie es sich eben machen
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