Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
schön sauer, das war nicht zu übersehen.
Plötzlich fing meine Mutter an zu heulen. Zuerst war es ein leises Schniefen, dann ließ sie ihr Gesicht in ihre Hände fallen und ein regelrechter Heulkrampf schüttelte sie durch. Zwischendrin murmelte sie irgendwas von »Meine Tochter! Meine Tochter!«.
Der Richter war total überfordert und versuchte immer wieder, sie zu beruhigen: »Frau Schuster! So beruhigen Sie sich doch! Wir sind doch alle hier, um eine Lösung zu finden!«
Langsam wurde ihr Schniefen leiser. Sie trocknete sich die Tränen und schaute entschuldigend zur Richterbank. Sah denn nur ich, dass sie schauspielerte? Dass das alles Show war?
»Bitte verzeihen Sie, Herr Richter! Die Vorstellung, Janine für immer zu verlieren, ist einfach so schrecklich. Gerade jetzt, wo Janines Vater und ich so glücklich sind. Janine ist doch unsere Tochter!«, sagte sie, während sie sich die Tränen von den Wangen tupfte.
Ich versuchte, einen Fleck auf dem Fußboden zu hypnotisieren. Vielleicht würde er sich von der Steinplatte lösen und zu schweben beginnen, wenn ich ihn nur intensiv genug ansah? Ich wusste, wenn ich auch nur einen Blick in Richtung meiner Mutter wagte, würde ich komplett ausrasten. Meine Gedanken drifteten immer weiter ab. Ich stellte mir vor, wie der Fleck zu schweben begann, zuerst bis auf die Höhe der Tischplatten, dann immer höher, bis auf Höhe meiner Augen und noch weiter. Wie ihm, auf halbem Weg zur Saaldecke, kleine Flügel wuchsen, mit denen er langsam zu schlagen begann. Er zog im Saal seine Runden und plötzlich wuchs ihm ein kleiner Schnabel. Er trällerte zu mir herüber und winkte mit einem Flügel, bis er schließlich aus dem halboffenen Fenster hinten bei den Zuschauerbänken hinaussegelte.
»Janine! Der Richter redet mit dir!«, sagte Papa und stupste mich an der Schulter. Ich blickte um mich. Alle sahen mich an. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit ich mit der Fleck-Hypnose begonnen hatte. Hatte ich was Wichtiges verpasst? Bestimmt nicht. Ich blickte zum Richter.
»Ja?«, fragte ich leise.
Der Richter lächelte und sagte zu mir: »Deine Mutter willigt in eine Adoption durch deine Pflegeeltern nicht ein. Und ich sehe keinen Grund, ihre fehlende Einwilligung durch eine Anordnung des Gerichtes zu ersetzen. Sie hat dich sehr lieb und sorgt sich um dich.«
Ich starrte ihn an. Was meinte er? Seit wann sorgte sich meine Mutter denn um mich? Konnte ich etwa nicht adoptiert werden?
»Und vielleicht möchtest du ja doch in ein paar Jahren mal wissen, woher deine Nase ist«, fuhr der Richter fort.
Ich war perplex. Was sollte denn das jetzt heißen? Ich kannte meine leiblichen Eltern doch und sämtliche Nasen meiner Blutsverwandten: die von Oma, von den Cousinen meiner Mutter, von Helmut und sogar die von seinem komischen Bruder. Ich wartete, dass irgendjemand anfing zu lachen. Das musste ein Witz sein. Ein richtig schlechter Witz. Aber keiner lachte. Tickte der noch ganz richtig? Wollte der mich jetzt auch noch auf den Arm nehmen?
Dann wurde mir klar, dass ich recht gehabt hatte: Die Entscheidung war lange vor diesem Gerichtstermin gefallen. Warum sonst war meine Mutter vor meiner Befragung nicht rausgeschickt worden? Warum sonst erzählte der Richter diesen Quatsch mit der Nase, der mit mir und meinem Fall so überhaupt nichts zu tun hatte? Das alles konnte nur bedeuten, dass es auch heute nur darum gegangen war, was meine Mutter wollte. Und dass sie mal wieder Mittel und Wege gefunden hatte, es durchzusetzen. Was ich wollte, sagte oder fühlte, hatte nie eine Bedeutung gehabt. Nicht vor dem heutigen Tag, nicht währenddessen und nicht danach.
Mein Kopf war komplett leer. Ich konnte gar nichts mehr denken, geschweige denn sagen. Warum war es nie einfach? Warum waren immer alle gegen mich?
Verloren
Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft,
hat schon verloren.
BERTOLT BRECHT
Ich war bereit gewesen zu kämpfen, aber ich war nicht bereit gewesen, zu verlieren. Ich schnitt ihr Bild einfach in der Mitte durch. Dann nahm ich die beiden Hälften, drehte sie und schnitt sie noch einmal durch. Wieder direkt durch die Mitte des Rechtecks. Die neuen Schnipsel drehte ich wieder und schnitt sie noch einmal durch. Und noch einmal. Ich wollte ihr Gesicht nicht absichtlich zerschneiden. Aber wenn es passierte, weil ein Auge oder ihr Mund direkt auf der Mitte eines Schnipsels lagen, was konnte ich dann dafür?
Ich nahm das zweite Bild aus der Kiste. Hier sah man
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