Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
nicht wirklich um ihn zu kümmern. Ich hatte sogar ein Gedicht darüber geschrieben. Es hieß Ketten und Flügel und hing jetzt über meinem Bett.
Es klopfte an der Tür und Mama kam rein. »Seit fünf Minuten rufe ich nach dir. Warum hörst du denn nicht? Die Leute vom Jugendamt sind da.«
»Hab total vergessen, dass die heute kommen«, murmelte ich. Das hatte mir gerade noch gefehlt heute. »Muss ich denn mit runterkommen? Mir geht’s heute nicht gut.«
Mama hatte schon vor ein paar Tagen gesagt, dass der nächste Besuch anstand. Wegen des abgelehnten Antrags war die Situation jetzt für alle besonders blöd.
»Ja, ich kann verstehen, dass du nicht gut drauf bist. Aber wir müssen alle gemeinsam überlegen, wie es jetzt weitergeht. Trübsalblasen hilft ja auch nichts. Außerdem gibt es da überhaupt keine Diskussion. Jugendamt-Termine sind Pflicht-Termine. Also, kommst du?«
Ich ließ die Fotoschnipsel liegen. Mama hatte das Schnipsel-Massaker zum Glück einfach ignoriert. Ich seufzte und stand auf. Es würde absolut nichts bringen, gemeinsam mit dem Jugendamt darüber zu reden, »wie es jetzt weitergehen würde«. Das war doch sowieso klar: Es würde genauso weitergehen wie immer, wie auch sonst? Wir machten, was die sagten. Ich folgte Mama die Treppe runter.
Papa, Stefan und Kerstin mussten heute mal nicht mit dabei sein. Im Wohnzimmer saßen nur Frau Antunes und die Frau, die ich aus den Therapiestunden kannte. Was wollte denn die hier?
»Hallo Janine, das ist Frau Schneider, die kennst du ja schon aus den Gesprächsstunden.«
»Mhm«, brummte ich und setzte mich aufs Sofa.
»Janine, ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, begann Frau Antunes.
Was konnte es denn jetzt noch Wichtiges geben?
»Ich habe die Betreuung eurer Familie abgegeben an Frau Schneider. Ich gehe in den Ruhestand und arbeite bloß noch wenige Wochen.«
Mama wusste anscheinend schon Bescheid, denn sie sah nicht besonders überrascht aus.
»Frau Schneider wird in Zukunft für euch zuständig sein und die Besuche bei euch übernehmen.«
Das waren keine guten Nachrichten, fand ich. Diese Frau Schneider hatte schon in den Gesprächsstunden einen dämlichen Eindruck gemacht. Aber wenn ich ehrlich war, war es mir egal. Wirklich auf meiner Seite war auch Frau Antunes nie gewesen. Und Frau Schneider würde die gleichen Gesetze haben wie Frau Antunes. Ich nickte.
»Meinem Mann, Janine und mir tut es sehr leid, dass Sie gehen, Frau Antunes. Ich fand die Zusammenarbeit mit Ihnen immer sehr angenehm. Sie haben uns immer unterstützt. Aber mit Frau Schneider wird es auch gut klappen, da bin ich mir sicher«, sagte Mama höflich und nickte Frau Schneider zu.
»Es ist mir wichtig, dass Sie wissen, dass ich immer für Sie da bin, auch wenn ich im Ruhestand bin. Janine und Ihre Familie sind mir in den Jahren ans Herz gewachsen. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte Frau Antunes zu Mama und ich sah, dass sie genauso wie Mama Tränen in den Augen hatte.
»Ich nehme an, dass du zu deiner leiblichen Mutter keinen Kontakt hattest seit dem Gerichtstermin?«, fragte Frau Antunes.
Ich schüttelte den Kopf.
»Geschrieben hast du ihr auch nicht, oder?«
Ich schüttelte wieder den Kopf.
»Tja, ich befürchte, dass das Zusammentreffen vor Gericht die Fronten eher verhärtet als entspannt hat. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn du eine kleine freundliche Geste in Richtung deiner Mutter sendest, Janine? Eine kleine Karte vielleicht?«
»Ich werde meiner Mutter nie wieder schreiben und sie nie wieder besuchen. Wenn die hier vor der Tür steht, schließe ich ab. Oder ich pack meinen Koffer und geh irgendwohin. Das meine ich ernst und dabei bleibe ich auch.« Ich war stolz auf mich, dass ich nicht geschrien hatte. Obwohl ich die Wut schon wieder in mir kochen spürte.
Mama war komplett weiß im Gesicht.
Frau Antunes nickte. Dann sagte sie: »Janine, diese Verweigerungshaltung bringt überhaupt nichts. Das war schon vor Gericht so. Mit dieser Trotzhaltung wirst du nichts erreichen.«
Ich atmete tief ein. »Es mag sein, dass ich damit nichts erreiche. Weil ich nämlich grundsätzlich nichts erreiche. Glauben Sie wirklich, es hätte etwas gebracht, wenn ich vor Gericht geredet hätte? Dem Gericht lag alles vor. Alle Akten, alles, was Sie denen erzählt haben. Ich hätte reden können wie ein Wasserfall, ich hätte da rumheulen können … Das hätte doch nichts verändert!«
»Na ja, einen Versuch wäre es schon wert gewesen. Wenn
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