Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
sie auf der Motorhaube von Helmuts Amischlitten. Sie lag mehr darauf, als dass sie saß. Schnipp trennte ich ihren Rumpf von den Beinen. Schnapp ging ein weiterer Schnitt durch ihren Hals. Er lag genau auf der Hälfte des Bildes, es war also reiner Zufall, dass ich dort schneiden musste. Ich hatte nur zwei Bilder von meiner Mutter gehabt. Jetzt hatte ich keins mehr. Vor mir, auf dem Boden meines Zimmers, lag ein kleines Häufchen aus den zerschnittenen Fotos meiner Mutter. Wie ein zerstörtes Puzzle, das nie wieder jemand zusammensetzen würde. Ich nahm die Schnipsel und ließ sie wie Sand durch meine Finger gleiten.
Es fühlte sich gut an. Das hatte ich schon längst tun wollen. Ganz egal, wie viel Macht sie in dieser Adoptionssache hatte, sie konnte rein gar nichts dagegen tun, dass ich sie aus meinem Herzen rausschmiss! Da war sie machtlos, das entschied nur ich alleine.
Unser Scheitern vor Gericht war jetzt zwei Wochen her. Nachdem der Richter die Sitzung geschlossen hatte, waren Papa und ich schnell zum Auto gegangen. Er hatte mich in den Arm genommen und ich hatte geweint und geweint. Wenig später kamen wir zu Hause an. Mama stand in der offenen Haustür und guckte erwartungsvoll. Als sie meine verheulten Augen gesehen hatte, fiel ihre ganze Freude mit einem Schlag in sich zusammen.
Später hatten wir versucht, über alles zu reden. Aber das war plötzlich schwierig. Wir hatten so viele Wochen und Monate über alles geredet und geredet und auf einmal waren wir alle sprachlos. Wie gelähmt. Mama war noch ängstlicher als vorher.
Ich war eigentlich nur noch wütend. Es war alles so schrecklich frustrierend! Wir hatten so gekämpft. Ein dreiviertel Jahr lang. Wir hatten die blöden Therapiestunden ertragen und den ganzen Mist. Die ganzen langen Gespräche mit dem Jugendamt. Und dann sagte dieser bescheuerte Richter, ich durfte nicht adoptiert werden. Weil ich später vielleicht wissen wollte, woher meine Nase kam? So ein großer Blödsinn! Man konnte fast nicht darüber nachdenken, ohne komplett durchzudrehen. Wenn ich nur daran dachte, wurde ich schon wieder wütend.
Aber auch Mamas Angst machte mich wütend. Ihr ständiges »Wir dürfen jetzt nichts falsch machen« kam noch häufiger als vorher. Es allen recht machen, nicht auffallen, sich unterordnen – das war so gar nicht das, was meinen Gefühlen entsprach. Es war so demütigend, sich jetzt auch noch so klein zu machen!
Es kam mir vor, als würden Mama und ich unter zwei verschiedenen dunklen Wolken sitzen. Wir sahen die andere und ihre Wolke, aber wir konnten nicht rüber zu ihr. Wir waren zwar zusammen, aber gleichzeitig alleine.
Seit dem Tag bei Gericht waren wir alle wie erstarrt. Wir hatten so viele Wochen und Monate immer wieder über die Adoption geredet und diskutiert, dass jetzt, wo wir gescheitert waren, gar kein Wort mehr zu passen schien. Jedes Wort hätte uns nur daran erinnert, dass wir verloren hatten.
Die Tage vergingen und ich tat so, als wäre alles ganz normal. Mein Vater und meine Schwester waren auch sehr bemüht, den Alltag alltäglich sein zu lassen, und ich spielte mit. Aber wir redeten nur wenig miteinander und gingen uns aus dem Weg. Zum Glück hatte ich meine Hobbys, sodass ich nicht so oft zu Hause sein musste. Ich schleppte mich in die Schule, ging zum Tanzen, zum Chor und zum Schwimmtraining. Egal, wo ich auftauchte, sah ich diese mitleidigen Blicke und das machte mich noch wütender, als ich es ohnehin schon war. Meine Wut hatte sich in den letzten Tagen verändert. Direkt nach dem Gerichtstermin war ich zum-Ausflippen-wütend gewesen, jetzt war ich eher ruhig-wütend. Aber das machte es kaum besser.
Die Situation vor Gericht war eine der ungerechtesten und absurdesten gewesen, die ich je erlebt hatte. Wie konnten Menschen, die doch in genau diesen Angelegenheiten bewandert waren, ein Kind, mich, in einen solchen Gefühlskonflikt bringen? Wer hatte sich denn das ausgedacht, meine leibliche Mutter während meiner Anhörung da reinzusetzen? Kannte sie mal wieder jemanden, der das eingefädelt hatte?
Ich verbrachte viel Zeit alleine in meinem Zimmer und dachte darüber nach, worum es in einer Familie eigentlich ging, vor allem, wenn man jemanden liebte. Wenn man jemanden liebte, wollte man doch, dass es dem Menschen gut ging, oder? Es ging doch darum, dem anderen Gutes zu tun, ihm Geschenke zu machen, über die er sich freute, und ihm bei allem zu helfen. Und nicht darum, ihn mit Gewalt an sich zu ketten, sich aber gar
Weitere Kostenlose Bücher