Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
aufgetaucht war, sagte Frau Grundel:
»Okay, Mädchen. Das wird ein Nachspiel für Susanne haben. Aber jetzt konzentrieren wir uns auf den Aufritt. Das Solo von Susanne fällt weg. Ihr tanzt einfach euren Part so, als würde sie ihr Solo machen. Das fällt bestimmt niemandem auf. Schafft ihr das?«
Wir nickten.
»Also gut. Dann raus mit euch. Viel Glück!«
Ich fand es schade, dass Susannes Solo wegfiel, sie konnte so cool tanzen! Ich bewunderte sie und hoffte, ich würde auch mal so gut werden wie sie.
Als wir auf die Bühne gingen und die ersten Takte der Musik erklangen, dachte ich schon nicht mehr daran. Auf der Bühne tanzen war einfach das Größte! Aus dem Augenwinkel sah ich Papa in der zweiten Reihe sitzen und lächeln. Ob noch jemand anderes hier war, den ich kannte? Mittlerweile hatte ich so oft vor Publikum getanzt, dass ich kaum noch aufgeregt war und es in vollen Zügen genießen konnte.
Wir bekamen viel Applaus und verbeugten uns immer wieder. Frau Grundel strahlte und klopfte uns allen auf die Schulter. »Gut gemacht, Mädels!«
Nachdem wir uns umgezogen hatten, standen wir vor der Turnhalle noch kurz zusammen. Papa kam aus dem Zuschauerraum und umarmte mich. »Das sah ja aus wie direkt vom Broadway! Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz!«
Auch von den anderen waren einige Eltern da, die uns jetzt lobten und sich bei Frau Grundel für ihre Arbeit bedankten.
»Frau Grundel, kann ich Sie kurz sprechen?«, fragte ein Mann, der ungefähr so alt war wie Papa.
»Ja natürlich, Herr Keller!«, sagte Frau Grundel.
Jetzt fiel es mir ein. Der Mann war Susannes Vater. Was machte er denn hier? Susanne war doch gar nicht da.
Frau Grundel und er stellten sich etwas abseits von uns. Frau Grundel wirkte auf einmal sehr ernst. Sie hörte Herrn Keller zu und schlug sich eine Hand vor den Mund. Erst jetzt fiel mir auf, wie grau Herr Keller heute aussah. Als wäre er viel älter, als er eigentlich war. War irgendetwas passiert?
Wenig später erfuhren wir es: Susanne hatte einen Autounfall gehabt. Sie war selbst gefahren und hatte noch eine Freundin mitgenommen. Auf einer Landstraße waren sie in einem Waldstück auf Glatteis gekommen. Das Auto war hinten ausgebrochen, Susanne konnte es nicht mehr kontrollieren. Sie überschlugen sich mehrfach, als sie die Böschung neben der Straße hinunterrasten, und knallten an einen Baum. Die Beifahrerin hatte schwer verletzt überlebt, aber Susanne war sofort tot.
Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen! Wie konnte Susanne einfach nicht mehr da sein? Und wieso Susanne und nicht jemand anderes?
Frau Grundel hatte uns die schrecklichen Neuigkeiten mit leiser Stimme mitgeteilt. Man merkte, wie schwer es ihr fiel, sich zusammenzureißen. Sie war blass und wirkte plötzlich völlig kraftlos. So fühlten wir uns alle. Die meisten Mädchen weinten, aber ich war zu geschockt.
Am Mittwoch der folgenden Woche war Susannes Beerdigung. Der Friedhof schien zu klein für all die Menschen, die gekommen waren. Susanne war erst neunzehn gewesen! Und plötzlich war sie tot. Beerdigungen und Todesfälle hatte ich bisher nur bei alten Menschen erlebt. Natürlich wusste ich, dass man auch als junger Mensch sterben konnte. Aber das geschah doch bloß im Fernsehen und nicht hier, mitten in meiner Umgebung! Warum ließ Gott eine Neunzehnjährige sterben? Was ergab das für einen Sinn? Ich konnte das einfach nicht begreifen. Hatte das der gleiche Gott getan, zu dem ich jeden Sonntag in der Kirche betete? Warum?
Das Leben konnte so schnell vorbei sein. Ganz ohne Vorwarnung konnte man ganz plötzlich sterben. Auch mit neunzehn, mit sechzehn oder mit fünfzehn. Dieser Gedanke machte mir Angst. Aber ich konnte nicht aufhören, ihn zu denken.
Wenn ich wüsste, dass ich morgen sterben müsste, was würde ich dann heute tun? Mama und Papa sagen, wie lieb ich sie hatte. Das hatte ich ganz lange nicht mehr gesagt. Weil wir seit der Gerichtsverhandlung gar nicht mehr viel über Gefühle sprachen. Würde ich meine leibliche Mutter noch einmal sehen wollen? Ich wusste es nicht. Was würde ich ihr sagen? Ich hatte keine Ahnung.
Die Woche nach Susannes Tod war überschattet von lauter solchen Gedanken. Ich war traurig und gleichzeitig ängstlich. Ich war froh, dass Mama es merkte und mich darauf ansprach. Sie versuchte mir zu erklären, dass man nicht alles verstehen konnte, was Gott so tat, aber dass alles einen Sinn hatte. Das wollte ich gerne glauben, aber welchen
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