Geschenkte Wurzeln: Warum ich mit meiner wahren Familie nicht verwandt bin (German Edition)
im Gegenteil: Es war alles besonders schlimm. Mama machte mir noch nicht mal offene Vorwürfe, sondern schwieg mich einfach an. Das war noch schlimmer, als wenn wir uns anbrüllten.
Zum Glück war es Karnevalssonntag und damit der Tag der Veedelszüge, der kleinen Karnevalsumzüge in den Kölner Stadtteilen. Weil ich mit der Leichtathletikgruppe in unserem Zug in Frechen mitlief, hatte ich eine gute Ausrede, früh von zu Hause zu verschwinden. Es war ohnehin geplant gewesen, dass nur Papa und Stefan mitkamen, weil Mama in der Kirche helfen musste.
Als ich nachmittags zurückkam, war die Stimmung immer noch mies. Ich ging auf mein Zimmer, hörte Musik und versuchte, etwas zu schreiben. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Mamas Schweigen machte mich ganz wahnsinnig. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ging nach unten in die Küche. Stefan saß am Küchentisch und las Zeitung, Mama bereitete etwas für das Abendessen vor.
»Ich finde das zum Kotzen! Okay, ich war eine halbe Stunde zu spät, aber das ist doch kein Weltuntergang! Es ist doch gar nichts passiert. Warum machst du ein solches Drama daraus? Können wir nicht einfach normal darüber reden?«, platzte es aus mir raus.
Mama drehte sich zu mir um. »Janine, ich mache aus nichts ein Drama. Das Ganze ist ein Drama.« Ihre Stimme war leise und fast brüchig. »Du weißt ganz genau, wovor ich Angst habe! Wenn dir irgendetwas passiert, ist es nicht nur schrecklich, weil dir etwas passiert ist, sondern es kann für uns alle sehr ernste Konsequenzen haben: Ich werde dafür zur Verantwortung gezogen. Es ist schlimm genug für eine Mutter, wenn ihrem Kind etwas passiert, aber für uns wird es doppelt schlimm, weil das Jugendamt ganz genau beobachtet, was hier vor sich geht. Die sagen dann zu mir: ›Frau Kunze, Sie haben Ihre Aufsichtspflicht verletzt, wir müssen Ihnen Janine wegnehmen.‹« Sie hatte Tränen in den Augen. »Wir dürfen uns nichts, wirklich gar nichts vorwerfen lassen. Wir dürfen einfach keine Fehler machen. Es ist nach wie vor keine Entscheidung gefallen und deshalb wird das so bleiben.«
»Aber Mama, ich bin nur eine halbe Stunde zu spät von der Karnevalsparty bei Silvia zurückgekommen. Alle anderen waren auch noch da. Ich war echt die Erste, die nach Hause musste! Dass ich eine halbe Stunde zu spät war, war ein Fehler. Aber es war mein Fehler, nicht deiner. Und es war kein riesig großer Fehler«, fügte ich noch hinzu. Das musste doch auch mal gesagt werden. Ich verstand sie ja grundsätzlich, trotzdem nervte es total, dass meine Eltern von allen die strengsten waren.
»Fünfzehnjährige sind um zehn Uhr zu Hause. So steht es im Jugendschutzgesetz. Das heißt für dich: zehn Uhr und keine Minute später.« Mamas Tränen waren wieder verschwunden. Ihr Gesicht wurde hart.
Plötzlich stand Stefan auf, knallte die Zeitung auf den Tisch und verließ wortlos die Küche.
»Stefan …«, begann Mama, verstummte dann aber wieder.
Ich ließ mich nicht beirren. »Und warum dürfen die anderen sonst so viel länger bleiben? Gilt das Jugendschutzgesetz nur für mich?«
Mama schüttelte resigniert den Kopf. »Natürlich nicht und das weißt du auch. Kannst du dich nicht einfach mal zusammenreißen? Kannst du dich nicht einfach mir zuliebe mal an die Regeln halten? Ich hab mir das alles auch nicht ausgedacht.« Sie wirkte müde und erschöpft. »Ich versuche, euch allen gerecht zu werden, aber manchmal ist das wirklich eine Zerreißprobe. Deine Situation ist nun mal leider nicht die gleiche wie die der anderen. Daran kann ich nichts ändern. Du kannst mir glauben, ich würde mir für uns alle so sehr wünschen, dass es anders ist.«
Ich war keine normale Jugendliche und würde nie eine sein. Egal, wie lange ich mit Mama diskutierte. Ich würde immer weniger dürfen als alle anderen. Mein Sonderstatus war für Mama und die ganze Familie eine Zerreißprobe, wie sie es genannt hatte. Würde unsere Familie daran zerbrechen?
Kiss
Wo Liebe ist, da ist Leben.
MAHATMA GANDHI
Zwei Wochen nach Karneval passierte es: Ich stieg aus der Bahn und wer lehnte am Zaun direkt neben der Ampel, an der ich auf meinem Nachhauseweg vorbei musste? Christian Engels! Der Bus seiner Schule, einer privaten Jungenschule, hielt an der Bahnstation, an der ich aussteigen musste. Ich wusste, dass Christian eigentlich erst zwei Haltestellen später aussteigen musste, aber jetzt war er hier und begrüßte mich: »Hallo, Janine!«
Er begleitete mich nach Hause. Fast
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