Geschichte der deutschen Sprache
weltliche Bedeutung angenommenhaben. Auch dies ist ein Teil der Geschichte des religiösen Wortschatzes im Deutschen.
Neben dem religiösen zeigt aber auch der weltliche Bereich zahlreiche Entwicklungen, die ebenfalls in Veränderungen des deutschen Wortschatzes spürbar sind. Besonders deutlich lässt sich dies am Beispiel der weltlichen Kultur des hohen Mittelalters zeigen. Viele Wörter des Mittelhochdeutschen sind heute ohne den entsprechenden kulturgeschichtlichen Hintergrund nicht mehr verständlich: Dies gilt beispielsweise für das Wort
minne
, das ursprünglich wohl ‹Erinnerung›, im Mittelhochdeutschen dann ‹Verehrung des Ritters zur höfischen Dame› bedeutet. Im 15. Jahrhundert verschwindet es dann zusammen mit dem Niedergang des Rittertums aus dem Wortschatz und wird erst im 18. und 19. Jahrhundert von romantisierenden Schriftstellern wiederbelebt. Eine solche Wiederbelebung hat übrigens eine ganze Reihe an Wörtern, die eng mit der Kultur der Ritter verbunden waren und im späten Mittelalter untergegangen sind, erfahren; zu den bekanntesten gehören hier sicher
Abenteuer
‹aufregendes Erlebnis› oder
Degen
‹Held›. Weitere Beispiele für mittelhochdeutsche Ausdrücke mit zeittypischen Bedeutungen, die in der Gegenwart kaum mehr richtig verstanden werden können, sind
reht
(als die an den Stand gebundenen und angeborenen Rechte und Pflichten jedes Menschen) oder
hôher muot
(Selbstbewusstsein und edle Gesinnung eines Mannes von Stande). Diese letzten Beispiele lassen bereits deutlich werden, dass viele Wörter aus mittelalterlicher Zeit zwar in der deutschen Gegenwartssprache erhalten geblieben sind, im Verlauf der Jahrhunderte aber eine mehr oder weniger deutliche Bedeutungsveränderung erfahren haben. Hierzu zählen beispielsweise
Arbeit
(aus
arebeit
‹Anstrengung, Mühsal›),
mögen
(aus
mügen
‹können, vermögen›) oder
schnell
(aus
snel
‹kräftig, tapfer›).
Solche Veränderungen betreffen mitunter ganze Felder von Wörtern , deren Bedeutungen miteinander verwandt sind. So leiten sich etwa die neuhochdeutschen Wörter
Frau
‹Ehefrau, Erwachsene› und
Fräulein
‹junge Erwachsene› von den mittelhochdeutschen Bezeichnungen
vrouwe
‹Herrin (Ehefrau von Stande)› und
vrouwelîn
‹Jungfrau von Stande, Herrin› ab und haben dabeialso eine Erweiterung und Neutralisierung ihrer Bedeutungen erfahren. Ihre heutigen Bedeutungen werden im Mittelalter von anderen Wörtern getragen, die ihrerseits auch eine Bedeutungsveränderung zum Neuhochdeutschen durchmachen: So wurden seinerzeit eine Frau oder Ehefrau als
wîp
und ein Mädchen als
maget
bezeichnet. Heute zeigen diese Ausdrücke Bedeutungen, die gegenüber dem Mittelalter durch eine Verengung und Verschlechterung gekennzeichnet sind:
Weib
bezeichnet nunmehr eine einfache, alte Frau und
Magd
eine Dienerin.
In einigen didaktisch ambitionierten Darstellungen der neuhochdeutschen Sprachgeschichte werden die verschiedenen kulturgeschichtlichen Epochen seit der frühen Neuzeit gerne durch charakteristische Wörter einund abgegrenzt. Für die gut zweieinhalb Jahrhunderte zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges mit dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Kaiserreichs mit dem Ersten Weltkrieg sieht eine kleine Kulturgeschichte in Schlüsselwörtern , die entweder entlehnt, neu geschaffen oder zumindest sehr oft gebraucht werden, beispielsweise folgendermaßen aus:
Periode/Diskurs
Schlüsselwörter (Auswahl)
Alamode-Zeit
Kavalier
,
Pläsier
,
Pöbel
Aufklärung
Vernunft
,
Toleranz
,
Menschenliebe
Pietismus
Erleuchtung
,
Innigkeit
,
Gelassenheit
Sturm und Drang
Genie
,
Begeisterung
,
Wehmut
Franz. Revolution
Freiheit
,
Gleichheit
,
Brüderlichkeit
Klassik
edle Einfalt
,
stille Größe, erhaben
Romantik
Schicksal
,
geisterhaft
,
unbeschreiblich
Junges Deutschland
Junkertum
,
Pressefreiheit
,
großdeutsch
Turnerbewegung
Reck
,
Dauerlauf, turnen
Wissenschaften
Kreislauf
,
Triebfeder
,
Reaktion
Industrialisierung
Industrie
,
Maschine
,
Fabrikarbeiter
Technik
Dampfschiff
,
Waschmaschine
Kaiserreich
Reichstag
,
Gründer
,
Kulturkampf
Der deutsche Wortschatz des 20. Jahrhunderts zeigt ebenfalls zahlreiche Entwicklungen, die kaum auf wenigen Seiten zusammengefasst werden können. Daher bietet sich auch hier eine Beschränkung auf eine Auswahl typischer Wörter an – hier aus dem Bereich des politisch-ideologischen Sprachgebrauchs: So ist der Wortschatz des Nationalsozialismus durch zahlreiche (teils euphemistische) Bezeichnungen
Weitere Kostenlose Bücher