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Geschichte der deutschen Sprache

Geschichte der deutschen Sprache

Titel: Geschichte der deutschen Sprache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thorsten Roelcke
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geprägt, die noch heute für die entsetzliche Ideologie stehen, in der ein Hitler oder ein Goebbels über
Arier
,
Blut und Boden
,
entartete Kunst
,
Frontbegradigung
(für Rückzug),
Neuordnung
(für die Eroberung europäischer Gebiete),
Rasse
,
Volksgemeinschaft
und vieles andere gesprochen haben; berüchtigt sind hier insbesondere Ausdrücke aus dem Organisations- und Verwaltungsbereich, wie zum Beispiel
Ahnenpass
,
Arbeitslager
,
Blockwart
,
Dienstverpflichtung
,
Gleichschaltung
,
Kampfzeit
,
Machtergreifung
oder
Sicherstellung
(für die Beschlagnahmung jüdischer Vermögen). Auch und gerade Wörter wie
Endlösung
(der
Judenfrage
) und
Euthanasie
, neben denen keine alternativen Bezeichnungen geduldet werden, machen es weiten Teilen der Bevölkerung oft schwer, über politische und rassistische Menschenverfolgung und staatlich organisierten Massenmord an denen, die man einfach
abgeholt
oder
weggebracht
hatte, zu sprechen.
    Dabei ist der Sprachgebrauch der Nationalsozialisten zwar neuartig, aber keineswegs neu, im Gegenteil: Das Verfahren, auf bekannte Wörter zurückzugreifen, diese im Sinne der eigenen politischen Ideologie umzudeuten und damit den Sprachgebrauch verschiedener gesellschaftlicher Gruppen für sich zu vereinnahmen und auf sich zu vereinigen, ist in den 20er und 30er Jahren aus der Sicht nationalsozialistischer Propaganda ausgesprochen erfolgreich. So stammen etwa aus dem politischen Wortschatz des 19. Jahrhunderts Ausdrücke wie
Ahn
,
arisch
oder
deutsch
, aus dem religiösen Bereich zum Beispiel
blind
,
Erbsünde
oder
ewig
, aus dem militärischen beispielsweise Alte
Garde
,
Dienst
oder
Einsatz
, aus dem technischen
ausschalten
,
Achse
oder
evakuieren
, aus dem biologischen
Lebensraum
(
im Osten
),
Parasit
oder
zersetzend
. Doch nicht allein solche sonderund fachsprachlichen Ausdrücke, sondern auch Alltagswörter wie
Arbeit
,
Charakter
oder
Ehre
werden im Sinne des Nationalsozialismus umgedeutet und somit für einen anderen Sprachgebrauch mehr oder weniger untauglich gemacht. Dabei entstehen bisweilen ganze Wortbildungsreihen, die diese Umdeutung leicht verdeutlichen; zu
Art
finden sich hier etwa:
Artbewusstsein
,
artecht
,
arteigen
,
artfremd
,
artlos
,
artvergessen
,
artverwandt
,
Aufartung
,
entarten
und andere. – Angesichts dieser Vereinnahmung allgemeiner und spezieller Ausdrücke scheint es nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr möglich, das «Wörterbuch des Unmenschen» aus der «Lingua Tertii Imperii» weiter zu verwenden, was letztlich zu einem äußerst bewussten Sprachgebrauch in den deutschen Staaten der Nachkriegszeit führt.
    Aber auch die Sprache im geteilten Deutschland ist nur allzu oft ein Instrument der Politik. Dabei geht es nicht allein um politische Beeinflussung bzw. Ideologisierung innerhalb der beiden deutschen Staaten selbst, sondern auch um deren Abgrenzung voneinander. Von der Deutschen Demokratischen Republik wird der eigene Sprachgebrauch zur staatlichen Überlebensfrage stilisiert: Ulbricht zieht in den 60er Jahren aus der These, in der DDR werde ein eigenes Deutsch gesprochen, den Schluss, dass die DDR als eigene Nation und somit als eigener Staat anzuerkennen sei – ein Argumentationsgang, dem von Seiten der Bundesrepublik Deutschland dadurch widersprochen wird, dass man aufgrund der gemeinsamen Sprache in Ost und West wohl kaum von zwei Nationen sprechen könne und Deutschland im Sinne einer zu überwindenden Teilung als ein einzelner Staat zu betrachten sei. Eine kleine Auswahl an Ausdrücken aus dem Osten und dem Westen zur Zeit der deutschen Teilung findet sich in folgender Tabelle, in der zwischen differenzierenden und polarisierenden Wörtern unterschieden wird:
 
Osten (DDR)
Westen (BRD)
polarisierend (bei gleicher Bedeutung und verschiedener Bewertung)
Westdeutschland
Berlin, Hauptstadt der DDR

DDR-Regierung
Staatsgrenze West
sozialistische Staatengemeinschaft
Bundesrepublik
Ost-Berlin

SED-Regime
(Ulbricht)Mauer
Ostblock
differenzierend (bei unterschiedlicher Bedeutung und neutraler (?) Bewertung)
Neues ökonomisches System
Kaderleiter
Intervision
Kosmonaut
Kaufhalle
Plast(e)
Zielstellung
(
soziale
)
Marktwirtschaft
Personalleiter
Eurovision
Astronaut
Supermarkt
Plastik
Zielsetzung
    Gerade der Sprachgebrauch der DDR ist oft polarisierend, um die eigene politische Position gegenüber der Bundesrepublik zu stärken. So wird etwa der wirtschaftliche Erfolg im eigenen Land als
sozialistischer Gewinn
geadelt, während derjenige im Nachbarland etwa

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