Geschichte der deutschen Wiedervereinigung
Initiative für die SED-PDS zurückzugewinnen, so verlor er die Legitimität, die eine SED-Reformregierung überhaupt besaß. Der 15. Januar signalisierte, dass nicht nur die Regierung, sondern die gesamte DDR in den Zustand der Auflösung überging.
Anfang 1990 war die Produktion in der DDR um über 6 Prozent gegenüber dem Herbst 1989 zurückgegangen. Währenddessen wurde die D-Mark immer mehr zum Zahlungsmittel in der DDR, deren Wirtschaft zunehmend Auflösungserscheinungen an den Tag legte. Am 29. Januar 1990 leistete Hans Modrow vor der Volkskammer nachgerade einen Offenbarungseid: Die ökonomische Lage verschlechtere sich «besorgniserregend», verschiedene Störungen setzten «Kettenreaktionen für viele Betriebe, für die Versorgung der Bürger sowie für die gesundheitliche Betreuung» in Gang. Die Spannungen könnten, so die Quintessenz, «mit den vorhandenen politischen Strukturen immer weniger beherrscht werden». Am 5. Februar prophezeiteder
Spiegel:
«Es kracht schon im Februar […] – die ostdeutsche Wirtschaft steht vor dem totalen Zusammenbruch.»
Dazu trug auch der nicht abreißende Strom der Übersiedler bei. 344.000 Ostdeutsche waren im Jahr 1989 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen, 225.000 waren es zwischen dem 9. November und Ende Januar 1990, und zu Beginn des neuen Jahres verließen täglich rund 2000 Menschen das Land. Sie sahen in der DDR keine Perspektive, und ihre Abwanderung verschlechterte abermals die Chancen der DDR, sich aus eigener Kraft zu retten, womit der Teufelskreis einer weiteren Abwanderungsbewegung in Gang gesetzt wurde.
So stand die DDR nach der friedlichen Revolution und der Öffnung der innerdeutschen Grenzen vor einer dreifachen Herausforderung: ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat zu werden, die Lebensbedingungen der Ostdeutschen substantiell zu verbessern und die Massenabwanderung nach Westen zu stoppen. Diese Konstellation setzte den Handlungsspielräumen aller Beteiligten enge Grenzen. Weder die Regierung Modrow mit ihrer Hoffnung auf eine gewendete SED-Herrschaft noch der Runde Tisch mit seiner Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus in einer eigenständigen DDR hatten in dieser Situation eine reelle Chance. Sie wurden zu Übergangsphänomenen, wie sie für revolutionäre Umbrüche typisch sind.
Innerhalb der Regierung setzten sich die vormaligen Blockparteien, die sich zunehmend nach Westen orientierten, zusehends vom Ministerpräsidenten ab. Um die Basis seiner Regierung zu verbreitern, machte Modrow am 15. Januar 1990 dem Runden Tisch seine Aufwartung und forderte die Teilnehmer auf, sich unmittelbar und verantwortlich an der Regierungsarbeit zu beteiligen. Nach zähen Verhandlungen traten am 5. Februar acht Vertreter der bisherigen Opposition als Minister ohne Geschäftsbereich in das Kabinett Modrow und somit in den alten administrativen Apparat der DDR ein. Der letzte sozialistische Ministerpräsident führte nun eine Koalition aus 13 verschiedenen Parteien und Gruppen. Einerseits erfuhr der Runde Tisch somit eine Aufwertung im prekären Institutionengefüge der untergehenden DDR. Andererseits verlor die Arbeit desRunden Tisches unter wachsenden Bergen von Positionspapieren und Beschlussvorlagen zunehmend Kontur und Linie.
Dies zeigte sich nicht zuletzt in der Verfassungsfrage, dem zweiten zentralen Aufgabenfeld des Runden Tisches. Die Sozialcharta vom 5. März enthielt, einschließlich des Rechts auf Arbeit, eine lange sozialpolitische Wunschliste – offen blieb allein die Frage der Finanzierung. Einen vollständigen Entwurf für eine eigene Verfassung konnte der Runde Tisch nicht mehr fertigstellen. Stattdessen legte die «Arbeitsgruppe Neue Verfassung der DDR» in der letzten Sitzung am 12. März «Gesichtspunkte für eine neue Verfassung» vor, und Anfang April stellte sie der neugewählten Volkskammer einen Gesamtentwurf zu, der bei den neuen Mehrheitsfraktionen wenig Interesse fand. Das Erbe der Vorstellungen der Oppositionsbewegungen in der Spur des «dritten Weges» wurde von den Entwicklungen in der DDR überrollt.
Und auch gegenüber der Bundesrepublik gerieten die Regierung Modrow und der Runde Tisch mehr und mehr ins Abseits. Am 1. Februar erklärte Bundeskanzler Kohl, Verhandlungen nicht mit Modrow, sondern «mit einer aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung der DDR» führen zu wollen. So lehnte Kohl auch die Forderung des Runden Tisches nach einem bundesdeutschen Solidarbeitrag in Höhe von 10 bis
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