Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy
werden zu weinen. Erst am vierten Tag kam Sir Stephen am späten Nachmittag, wie es seine Gewohnheit war, zu O, nahm sie und ließ sich von ihr liebkosen. Als er endlich stöhnte und in seiner Lust ihren Namen rief, wußte sie, daß sie gerettet war. Aber als sie, längelang, mit geschlossenen Augen, gebräunt und reglos auf dem weißen Teppich liegend, ihn halblaut fragte, ob er sie liebe, antwortete er nicht: »Ich liebe dich, O«, sondern sagte nur: »Aber sicher« und lachte. War das so sicher? »Du wirst am 15. September in Roissy sein«, hatte er gesagt. »Ohne Sie?« hatte O gefragt. »Ach, ich komme auch«, hatte er geantwortet. Es war in den letzten Augusttagen; die Feigen und die blauen Trauben in den Körben zogen die Wespen an, die Sonne war weniger weiß und verlängerte des Abends die Schatten. O war allein in dem großen unfreundlichen Haus mit Natalie und Sir Stephen. René hatte Jacqueline mitgenommen.
Sollte O die Tage zählen, die sie noch vom 15. September trennten, wie Natalie es machte: noch vierzehn, noch zwölf, oder sollte sie den Entscheidungstag fürchten? Die so gezählten Tage vergingen still. Natalie und O waren gleichsam im vorhinein in einem Frauengemach eingeschlossen, das sie nicht zu verlassen wünschten, wo die Wände das Lachen und die Gespräche und die Fensterscheiben den Tritt von Schritten so gut dämpften, daß die Schreie von O, wenn sie geschlagen wurde, das einzige Geräusch waren. Eines Sonntagsabends, als der Himmel schwarz von Gewitter war, ließ Sir Stephen sie bitten, sich anzuziehen und herunterzukommen. Sie hatte eine Wagentür klappen hören und durch das Badezimmerfenster, das auf den Hof ging, das Geräusch von Stimmen. Dann nichts mehr. Natalie war heraufgerannt und hatte gesagt, sie habe Besucher gesehen: drei seien es, und einer von ihnen sei zweifellos ein Malaie mit dunkler Haut, sehr schwarzen Augen, groß, schlank und gut aussehend. Sie sprachen weder Französisch noch Englisch, Natalie hielt es für Deutsch. Deutsch oder nicht, O verstand kein Wort von ihrer Sprache, und wie sollte man die Gleichgültigkeit von Sir Stephen verstehen? Nicht, daß er sich den Anschein gab, sie nicht zu sehen, im Gegenteil; er lachte und scherzte zweifellos mit seinen Gästen, während sie sich ihrer bedienten, aber so absolut lässig, so sichtbar teilnahmslos, daß O im Zweifel war, ob sie nicht dieser Gleichgültigkeit, die er ihr gegenüber so plötzlich bekundete, Groll oder Verachtung vorgezogen hätte. Verachtung und ein seltsames Mitleid las sie im Blick des Malaien, der sie nicht angerührt hatte, als sie sich vernichtet, keuchend, mit beflecktem Rock erhob, nachdem die beiden anderen Männer sie aus den Händen gelassen hatten. Man mußte annehmen, daß sie ihnen gefallen habe, denn sie kamen am nächsten Tag gegen elf Uhr allein wieder. Diesmal ließ Sir Stephen sie gleich in Os Zimmer hinaufgehen, wo sie nackt war. Als sie wieder gingen, schluchzte sie. »Warum, O?« fragte Sir Stephen, aber er wußte genau, warum und wie man die Verzweiflung verscheuchen konnte, von der O gepackt war, als sie sich in ihrem eigenen Zimmer und vor seinen Augen so behandelt sah, wie man selten wagt, ein Bordellmädchen zu behandeln, und vor allem so, als ob er selbst sie für ein solches halte. Er sagte ihr, sie habe nicht darüber zu entscheiden, wo, wie und wem sie dienen solle, und ebenso wenig stehe es ihr zu, über seine Gefühle zu urteilen. Dann ließ er sie so grausam peitschen, daß sie im Handumdrehen getröstet war. Nachdem die Tränen und der brennende Schmerz vorbei waren, stellte sich trotzdem wieder das Gefühl ein, vor dem sie sich gefürchtet hatte: daß nämlich ein anderer Grund als die Lust, die er dabei empfinden konnte - empfand er sie noch? - ihn veranlaßte, sie zu prostituieren, daß sie ihm als Tauschgeld diene - aber was tauschte er ein? Daß er mit ihrem, ihm ausgelieferten Körper bezahlte, etwas kaufte, aber was? Ein abscheuliches und groteskes Gleichnis kam ihr in den Sinn: Die Reiterei des heiligen Georg nannte man in Frankreich das englische Geld. Ja, vielleicht war sie, ohne es zu wissen, die am meisten erniedrigte Statistin bei der Darstellung dieser Redensart als lebendes Bild, auf den Knien liegend, auf die Ellbogen gestützt und von Unbekannten geritten. Und wenn er sie schlagen ließ, dann nur noch, um sie besser zu drillen. Nun, worüber beklagte sie sich eigentlich, worüber wunderte sie sich? Noch angebunden an die Balustrade in der Nähe
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