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Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Trotzki
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auch mit einem herabgeminderten politischen Niveau, sogar seiner fortgeschrittensten Schichten. In der Provinz stand die Sache noch schlimmer. Nur dieser durch den Krieg verursachte Rückfall in politischen Analphabetismus und Halbanalphabetismus des Proletariats schuf die zweite Bedingung für die vorübergehende Herrschaft der Versöhnlerparteien.
    Eine Revolution lehrt, und zwar schnell. Darin besteht ihre Kraft. Jede Woche brachte den Massen etwas Neues. Jeder zweite Monat schuf eine Epoche. Ende Februar - der Aufstand. Ende April - Auftreten bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd! Anfang Juli - ein neues Auftreten in viel breiterem Maßstab und unter entschiedeneren Parolen. Ende August - der Kornilowsche Staatsstreichversuch, von den Massen zurückgeschlagen. Ende Oktober - Machteroberung durch die Bolschewiki. Unter diesen durch die Gesetzmäßigkeit ihrer Rhythmen verblüffenden Ereignissen vollzogen sich tiefe, molekulare Prozesse, die die verschiedenartigen Teile der Arbeiterklasse in ein politisches Ganzes verschmolzen. Die entscheidende Rolle spielte dabei wiederum der Streik.
    Eingeschüchtert vom Donner der Revolution, der mitten in das Bacchanal von Kriegsgewinnen eingeschlagen hatte, ließen sich die Industriellen in den ersten Wochen auf Zugeständnisse an die Arbeiter ein. Die Petrograder Fabrikbesitzer erklärten sich sogar unter Vorbehalten und Einschränkungen mit dem Achtstundentag einverstanden. Doch brachte das keine Beruhigung, da das Lebensniveau unablässig sank. Im Mai war das Exekutivkomitee gezwungen, festzustellen, daß die Lage der Arbeiter bei der wachsenden Teuerung "für viele Kategorien an chronischen Hunger grenzt". In den Arbeitervierteln wurde die Stimmung nervöser und gespannter. Am meisten bedrückte das Fehlen einer Perspektive. Die Massen sind schwerste Entbehrungen zu tragen imstande, wenn sie wissen, wofür. Das neue Regime enthüllte sich ihnen aber immer mehr als Verschleierung der alten Verhältnisse, gegen die sie sich im Februar erhoben hatten. Dies wollten sie nicht dulden.
    Besonders stürmischen Charakter nehmen die Streiks unter den rückständigsten und ausgebeutetsten Arbeiterschichten an. Waschfrauen, Anstreicher, Böttcher, Handelsangestellte, Bauarbeiter, Sattler, Maler, Tagelöhner, Schuhmacher, Papparbeiter, Wurstmacher, Schreiner streiken Schlag Aufschlag während des ganzen Juni. Die Metallarbeiter dagegen beginnen, eine bremsende Haltung einzunehmen. Die fortgeschrittenen Arbeiter kamen immer mehr zu der Einsicht, daß ökonomische Teilstreiks unter den Bedingungen von Krieg, Wirtschaftszerfall und Inflation keine ernstliche Besserung bringen können, daß irgendwelche Veränderungen der Grundlagen selbst notwendig sind. Die Aussperrung machte die Arbeiter nicht nur für die Forderung der Kontrolle über die Industrie empfänglich, sondern brachte sie auch auf den Gedanken von der Notwendigkeit der Übernahme der Fabriken in Staatshände. Diese Schlußfolgerung erschien um so natürlicher, als die Mehrzahl der Privatbetriebe für den Krieg arbeitete und daneben bereits Staatsunternehmen solcher Art existierten. Schon im Sommer 1917 kommen aus allen Enden Rußlands Arbeiter- und Angestelltendelegationen in die Hauptstadt mit Gesuchen um Übernahme von Betrieben durch den Fiskus, da die Aktionäre die Zahlungen eingestellt hatten. Die Regierung wollte jedoch nichts davon hören. Folglich mußte man die Regierung auswechseln. Die Versöhnler wirkten dem entgegen. Die Arbeiter machten Front gegen die Versöhnler.
    Das Putilow-Werk mit seinen 40.000 Arbeitern schien in den ersten Revolutionsmonaten die Feste der Sozialrevolutionäre zu sein. Doch hielt seine Garnison den Bolschewiki nicht lange stand. An der Spitze der Angreifer konnte man am häufigsten Wolodarski sehen. Früher Schneider, Jude, der viele Jahre in Amerika verbracht und die englische Sprache gut erlernt hatte, war Wolodarski ein glänzender Massenredner, logisch, schlagfertig und kühn. Die amerikanische Betonung machte seine klangvolle Stimme, die in vieltausendköpfigen Versammlungen klar ertönte, eigenartig ausdrucksvoll. "Mit seinem Erscheinen im Narwski-Bezirk", erzählt der Arbeiter Minitschew, "begann im Putilow-Werk der Boden unter den Füßen der Herren Sozialrevolutionäre zu schwanken, und nach kaum zwei Monaten gingen die Putilow-Arbeiter mit den Bolschewiki."
    Das Anwachsen der Streiks und des Klassenkampfes überhaupt steigerte fast automatisch den Einfluß der

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