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Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Trotzki
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kombinierten Entwicklung verspäteter Länder - im Sinne der eigenartigen Verquickung von Elementen der Rückständigkeit mit jüngsten Faktoren - ersteht hier vor uns in seiner vollendeten Form und gibt gleichzeitig den Schlüssel zu dem wesentlichsten Rätsel der russischen Revolution. Wäre das Agrarproblem, als Erbe der Barbarei der alten russischen Geschichte, von der Bourgeoisie gelöst worden, hätte sie es zu lösen vermocht, das russische Proletariat hätte im Jahre 1917 keinesfalls an die Macht gelangen können. Um den Sowjetstaat zu verwirklichen, war die Annäherung und gegenseitige Durchdringung zweier Faktoren von ganz verschiedener historischer Natur notwendig: des Bauernkrieges, das heißt einer Bewegung, die für die Morgenröte der bürgerlichen Entwicklung charakteristisch ist, und des proletarischen Aufstandes, das heißt einer Bewegung, die den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet. Darin eben besteht das Jahr 1917.

Kapitel 4: Der Zar und die Zarin
    Dieses Buch hat am allerwenigsten die Aufgabe, psychologische Untersuchungen als Selbstzweck anzustellen, durch die man jetzt nicht selten die soziale und historische Analyse zu ersetzen versucht. In unserem Gesichtsfelde stehen vor allem die großen bewegenden Kräfte der Geschichte, die einen überpersönlichen Charakter tragen. Eine von ihnen ist die Monarchie. Jedoch wirken alle diese Kräfte sich durch Menschen aus. Die Monarchie aber ist ihrem Wesen nach mit dem persönlichen Prinzip verbunden. Das rechtfertigt an sich das Interesse für die Person eines Monarchen, den der Gang der Entwicklung mit einer Revolution zusammenstoßen ließ. Wir hoffen - außerdem - in der weiteren Darstellung wenigstens teilweise zeigen zu können, wo in der Persönlichkeit das Persönliche aufhört - nicht selten viel früher, als es scheint - und wie oft das "besondere Merkmal" einer Person nichts weiter darstellt als den individuellen Kratzer einer höheren Gesetzmäßigkeit.
    Seine Ahnen hinterließen Nikolaus II. als Erbschaft nicht nur das gewaltige Reich, sondern auch die Revolution. Sie bedachten ihn mit keiner einzigen Eigenschaft, die ihn befähigt hätte, ein Reich zu verwalten oder auch nur ein Gouvernement oder einen Kreis. Der historischen Brandung, die ihre Wogen immer näher an die Tore des Palastes heranwälzte, brachte der letzte Romanow eine dumpfe Teilnahmslosigkeit entgegen. Es war, als trenne sein Bewußtsein und seine Epoche eine durchsichtige, aber völlig undurchdringliche Sphäre.
    Die Personen, die mit dem Zaren in Berührung gekommen waren, vermerkten nach dem Umsturz wiederholt, daß in den tragischsten Augenblicken seiner Regierung während der Übergabe Port Arthurs und des Unterganges der Flotte bei Zussima, zehn Jahre später, während des Rückzuges der russischen Truppen aus Galizien, und, nach weiteren zwei Jahren, in jenen Tagen, die dem Thronverzicht vorangingen, als rings um ihn alles bedrückt, erschrocken, erschüttert war, Nikolaus II. allein die Ruhe bewahrte. Wie bisher, erkundigte der Zar sich nach der Zahl der Werst, die er während seiner Reisen durch Rußland zurückgelegt hatte, erinnerte sich an Episoden aus einstigen Jagden, an Anekdoten bei offiziellen Begegnungen; er zeigte überhaupt Interesse für den Kehricht seines Alltagslebens, während über ihm Donner rollten und Blitze zuckten. "Was ist das?" fragte sich einer seiner vertrauten Generale, "eine ungeheure, fast unwahrscheinliche Haltung, erreicht durch Erziehung? Glaube an eine göttliche Vorbestimmung der Ereignisse? Oder mangelnde Denkfähigkeit?" Die Antwort ist zur Hälfte schon in der Frage enthalten. Die sogenannte "gute Erziehung" des Zaren, seine Selbstbeherrschung auch unter den außerordentlichsten Umständen, lassen sich keinesfalls durch äußere Dressur allein erklären: der Kern lag in der inneren Gleichgültigkeit, in der Dürftigkeit der seelischen Kräfte, in der Schwäche der Willensimpulse. Die Maske der Gleichgültigkeit, die man in gewissen Kreisen als "gute Erziehung" bezeichnet, verschmolz bei Nikolaus auf natürliche Weise mit dem ihm angeborenen Gesicht.
    Das Tagebuch des Zaren ist wertvoller als alle Zeugenaussagen: tagein, tagaus, jahrein, jahraus folgen auf diesen Blättern trostlose Eintragungen seelischer Leere. "Ging lange spazieren und tötete zwei Krähen. Trank Tee bei Tageslicht." Ein Spaziergang zu Fuß, eine Kahnfahrt. Und wieder Krähen und wieder Tee. Alles an der Grenze der Physiologie. Die Erwähnung

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