Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Feinden kein Versteck bleibt." - "Die Bauern eigneten sich die gesamte gutsherrliche Habe an", erzählt der Orlower Bauer Sawtschenko, "jagten die Gutsbesitzer von den Gütern, rissen aus den gutsherrlichen Häusern Fenster, Türen, Fußböden, Decken heraus ... Die Soldaten sagten, wenn man die Wolfshöhlen aushebt, muß man auch den Wölfen den Garaus machen. Solcher Drohungen wegen hielten sich die vornehmsten und größten Gutsbesitzer versteckt, darum hat es Morde an Gutsbesitzern nicht gegeben."
Im Dorfe Salessje, Gouvernement Witebsk, brannte man Speicher voll Korn und Heu nieder auf dem Gut, das dem Franzosen Bernard gehörte. Die Muschiks zeigten um so weniger Lust, einen Unterschied in der Staatszugehörigkeit zu machen, als viele Gutsbesitzer sich beeilt hatten, ihren Grund und Boden auf privilegierte Ausländer zu überschreiben. "Die französische Gesandtschaft bittet, Maßnahmen zu ergreifen." In den an der Front gelegenen Landstrichen war es Mitte Oktober schwer, "Maßnahmen" zu ergreifen, sogar wenn man der französischen Gesandtschaft gefällig sein wollte.
Die Plünderung eines großen Gutes bei Rjasan dauerte vier Tage, "an den Plünderungen nahmen sogar Kinder teil". Der Bund der Bodenbesitzer brachte dem Ministerium zur Kenntnis, daß, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden sollten, "Lynchjustiz, Hunger und Bürgerkrieg entstehen müssen". Unverständlich, weshalb die Gutsbesitzer vom Bürgerkrieg noch immer in Zukunftsform sprechen.
Auf dem Genossenschaftskongreß Anfang September sagte Berkenheim, einer der Führer der starken Handelsbauernschaft: "Ich bin überzeugt, daß noch nicht ganz Rußland sich in ein Irrenhaus verwandelt hat und vorläufig hauptsächlich die Bevölkerung der Großstädte den Verstand verlor." Diese selbstzufriedene Stimme des soliden und konservativen Teils der Bauernschaft kam hoffnungslos spät: gerade in diesem Monat fiel das Dorf völlig aus allen Vernunftsangeln und ließ an Wildheit des Kampfes alle "Irrenhäuser" der Städte weit zurück.
Im April hatte Lenin es noch für möglich gehalten, daß die patriotischen Genossenschaftler und Kulaken die Hauptmasse der Bauernschaft auf den Weg der Versöhnung mit Bourgeoisie und Gutsbesitzern mitreißen könnten. Um so unermüdlicher drängte er auf Schaffung besonderer Sowjets der Landarbeiterdeputierten und selbständiger Organisationen der ärmsten Bauern. Ein Monat nach dem andern zeigte jedoch, daß dieser Teil der bolschewistischen Politik keine Wurzeln schlug. Wenn man von den Ostseeprovinzen absieht, existierten absolut keine Landarbeitersowjets. Auch die Bauernarmut fand keine eigene Organisationsform. Dies nur mit der Rückständigkeit der Landarbeiter und der ärmsten Dorfschichten zu erklären, hieße dem Kern der Sache ausweichen. Der Hauptgrund wurzelte in dem Wesen der historischen Aufgabe selbst: in der demokratischen Agrarumwälzung.
An den zwei wichtigsten Fragen: der Pacht und der Lohnarbeit, zeigt sich am überzeugendsten, wie die Gesamtinteressen des Kampfes gegen die Überbleibsel der Leibeigenschaft nicht nur der Bauernarmut, sondern auch den Landarbeitern den Weg zu einer selbständigen Politik abschnitten. Die Bauern hatten von den Gutsbesitzern im europäischen Rußland siebenundzwanzig Deßjatinen gepachtet, nahezu sechzig Prozent des gesamten in Privatbesitz befindlichen Bodens, und dafür einen jährlichen Pachttribut von vierhundert Millionen Rubel gezahlt. Der Kampf gegen die Sklavenbedingungen der Pacht wurde nach der Februarumwälzung Hauptelement der Bauernbewegung. Einen kleineren, aber doch sehr bedeutenden Platz nahm der Kampf der Landarbeiter ein, der diese in einen Gegensatz brachte nicht nur zur gutsherrlichen, sondern auch zur bäuerlichen Ausbeutung. Der Pächter kämpfte für die Erleichterung der Pachtbedingungen, der Landarbeiter für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Beide gingen, jeder auf seine Art, von der Anerkennung des Gutsbesitzers als des Eigentümers und Herrn aus. Aber von dem Moment an, wo sich die Möglichkeit eröffnete, die Sache zu Ende zu führen, das heißt den Boden wegzunehmen und sich darauf selbst zu setzen, hörte das Interesse der Bauernarmut für Pachtfragen auf, und für den Landarbeiter begann die Gewerkschaft ihre Anziehungskraft einzubüßen. Gerade die Landarbeiter und armen Pächter verliehen durch ihren Anschluß an die Gesamtbewegung dem Bauernkrieg die letzte Entschlossenheit und Unwiderruflichkeit.
Nicht mit der gleichen Wucht
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