Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
wirklich Staffeln von der Front einzutreffen. Die Stimmung in den Versöhnlersphären wurde von Stunde zu Stunde rasender. Die von der Front ankommenden Truppen waren darauf gefaßt, die Hauptstadt in blutigem Kampfe den Agenten des Kaisers entreißen zu müssen. Nun, da es sich herausstellte, daß an Truppen kein Bedürfnis bestand, mußte man deren Anforderung rechtfertigen. Um nicht selbst in Verdacht zu geraten, waren die Versöhnler aus allen Kräften bemüht, den Kommandeuren zu beweisen, daß Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit ihnen zum gleichen Lager gehörten und die Bolschewiki der gemeinsame Feind seien. Als Kamenjew den Versuch machte, die Mitglieder des Präsidiums des Exekutivkomitees an das vor wenigen Stunden getroffene Abkommen zu erinnern, antwortete Liber im Tone eines eisernen Staatsmannes: "Jetzt hat sich das Kräfteverhältnis geändert." Aus den populären Reden Lassalles wußte Liber, daß die Kanone ein wichtiger Bestandteil einer Konstitution ist. Eine Delegation Kronstädter mit Raskolnikow an der Spitze wurde wiederholt vor die Militärische Kommission des Exekutivkomitees geladen, wo die Forderungen, von Stunde zu Stunde sich steigernd, in einem Ultimatum Libers gipfelten: unverzüglich in die Entwaffnung der Kronstädter einzuwilligen. "Nachdem wir die Militärische Kommission verlassen hatten", erzählt Raskolnikow, "nahmen wir unsere Beratungen mit Trotzki und Kamenjew wieder auf. Lew Davido-witsch (Trotzki) empfahl, unverzüglich und geheim die Kronstädter nach Hause zu schicken. Es wurde der Beschluß gefaßt, Genossen in die Kasernen zu entsenden und die Kronstädter vor der drohenden gewaltsamen Entwaffnung zu warnen." Die Mehrzahl der Kronstädter reiste rechtzeitig ab; es blieben nur kleine Abteilungen in der Villa Kschessins-kaja und der Peter-Paul-Festung.
Mit Wissen und Zustimmung der Minister-Sozialisten erteilte Fürst Lwow schon am 4. Juli dem General Polowzew den schriftlichen Befehl: "Die Bolschewiki zu verhaften, die das Haus Kschessinskaja besetzt halten, es zu säubern und mit Truppen zu belegen." jetzt, nach der Zertrümmerung der Redaktion und der Druckerei, erhob sich die Frage nach dem Schicksal des Zentralquartiers der Bolschewiki in aller Schärfe. Man mußte die Villa in Verteidigungszustand bringen. Zum Kommandanten des Gebäudes ernannte die Militärische Organisation Raskolnikow. Er verstand seine Aufgabe weitgehend auf Kronstädter Art, verschickte Aufforderungen zur Lieferung von Kanonen und sogar zur Entsendung eines kleinen Kriegsschiffes in die Newamündung. Diesen seinen Schritt erklärte Raskolnikow später folgendermaßen: "Gewiß wurden meinerseits Kriegsvorbereitungen getroffen, aber nur zum Zwecke der Selbstverteidigung, da es in der Luft nicht nur nach Pulver, sondern auch nach Pogromen roch ... Ich glaube nicht ohne Grund angenommen zu haben, daß es genügte, ein gutes Schiff in die Newamündung zu bringen, damit die Entschlossenheit der Provisorischen Regierung bedeutend sinke." Das alles ist ziemlich unklar und nicht sehr ernst. Man darf eher annehmen, daß in den Tagesstunden des 5. Juli die Führer der Militärischen Organisation und Raskolnikow mit ihren den Umschwung der Lage noch nicht völlig richtig eingeschätzt hatten und daß in dem Augenblick, wo die bewaffnete Demonstration eiligst den Rückzug antreten mußte, um sich nicht in einen vom Feinde aufgezwungenen bewaffneten Aufstand zu verwandeln, manch einer von den militärischen Leitern einige zufällige und unüberlegte Schritte vorwärts versuchte. Die jungen Kronstädter Führer hatten nicht zum erstenmal das Maß zu voll genommen. Aber kann man eine Revolution ohne Teilnahme von Menschen machen, die das Maß zu voll nehmen? Und bildet nicht ein gewisser Prozentsatz Leichtsinn einen notwendigen Bestandteil jeder großen menschlichen Tat? Diesmal beschränkte sich alles nur auf Befehle, die außerdem von Raskolnikow selbst bald aufgehoben wurden. In der Villa liefen indes immer beunruhigendere Nachrichten zusammen: jemand wollte in den Fenstern eines auf dem anderen Newaufer gelegenen Hauses gegen das Haus Ksches-sinskaja gerichtete Maschinengewehre bemerkt haben; ein anderer sah eine Panzerautokolonne in die gleiche Richtung fahren; ein dritter berichtete über nahende Kosakenpatrouillen. Zum Kreiskommandierenden wurden zwecks Verhandlungen zwei Mitglieder der Militärischen Organisation entsandt. Polowzew versicherte den Parlamentären, die Zerstörung der Prawda sei
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