Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Unabhängigkeit vom Zentral-Exekutivkomitee gewacht hatte, ist jedesmal gezwungen, sich in der Minute der Gefahr demütig hinter dessen Rücken zu verstecken. Flehentliche Befehle ergehen auch an die Junkerschulen in Petrograd und Umgebung. Die Eisenbahn ist angewiesen: "Die von der Front nach Petrograd kommenden Truppenstaffeln sind außerhalb jeder Reihenfolge, wenn notwendig unter Einstellung des Personenverkehrs, unverzüglich weiterzuleiten."
Nachdem die Regierung alles, was sie vermochte, unternommen hatte und um 2 Uhr nachts auseinandergegangen war, verblieb im Palais mit Kerenski nur dessen Vertreter, der liberale Moskauer Kaufmann Konowalow. Der Bezirkskommandierende Polkownikow kam zu ihnen mit dem Vorschlag, sofort mit Hilfe der treuen Truppen eine Expedition zur Einnahme des Smolny zu organisieren. Kerenski akzeptierte bereitwilligst diesen herrlichen Plan. Doch konnte man aus den Worten des Kommandierenden absolut nicht entnehmen, auf welche Kräfte er sich denn zu stützen gedachte. Nun erst begriff Kerenski, nach seinem eigenen Geständnis, daß Polkownikows Rapporte der letzten zehn bis zwölf Tage über die völlige Bereitschaft seines Stabes zum Kampfe gegen die Bolschewiki "jeglicher Grundlage entbehrten". Als habe Kerenski für die Einschätzung der politischen und militärischen Situation wirklich keine anderen Quellen gehabt als die Kanzleimeldungen eines mittelmäßigen Obersten, der, unbekannt aus welchem Grunde, an die Spitze des Militärbezirkes geraten war. Während der bitteren Betrachtungen des Regierungshauptes brachte ein Kommissar der Stadthauptmannschaft, Rogowski, eine Reihe Meldungen: einige Schiffe der Baltischen Flotte seien kampfbereit in die Newa eingefahren; etliche davon hätten vor der Nikolajewski-Brücke Anker geworfen und sie besetzt; Abteilungen Aufständischer rückten gegen die Schloßbrücke vor. Rogowski lenkte Kerenskis Aufmerksamkeit besonders auf die Tatsache, daß "die Bolschewiki ihren gesamten Plan in vollster Ordnung durchführen, ohne irgendwo auf Widerstand seitens der Regierungstruppen zu stoßen". Welche Truppen als Regierungstruppen zu bezeichnen waren, läßt das Gespräch jedenfalls offen.
Kerenski und Konowalow stürzten aus dem Palais in den Stab: "Es war keine Minute Zeit mehr zu verlieren." Das imposante rote Gebäude des Stabes war von Offizieren überfüllt. Sie kamen hierher nicht in Angelegenheiten ihrer Truppenteile, sondern um sich vor diesen zu verbergen. "In dem Militärgewühl huschten überall Zivilisten herum, die niemand kannte." Polkownikows neuer Bericht überzeugt Kerenski endgültig von der Unmöglichkeit, sich auf den Kommandierenden und dessen Offiziere zu verlassen. Das Regierungshaupt beschließt, um seine Person "alle Pflichttreuen" zu sammeln. Sich erinnernd, daß er Parteimann ist - so erinnern sich manche erst in letzter Todesqual der Kirche -, fordert Kerenski telephonisch die sofortige Absendung der sozial-revolutionären Kampfmannschaften. Bevor jedoch -wenn überhaupt - dieser plötzliche Appell an die bewaffneten Kräfte der Partei einen Erfolg zeitigen konnte, mußte er, nach Miljukows Worten, "alle rechteren Elemente, die auch ohnehin Kerenski feindselig gesinnt waren, von ihm abstoßen". Seine Isoliertheit, die sich bereits in den Tagen des Kornilowaufstandes anschaulich gezeigt hatte, bekam jetzt noch fataleren Charakter. "Quälend schleppten sie sich hin, die langen Stunden dieser Nacht", wiederholt Kerenski seinen Satz vom August. Verstärkungen kamen von nirgendwo. Die Kosaken hielten Beratungen ab, die Vertreter der Regimenter sagten, man könnte zwar - allgemein gesprochen - eine Aktion unternehmen, warum auch nicht, doch seien dafür Maschinengewehre, Panzerautos und hauptsächlich Infanterie notwendig. Ohne Bedenken versprach ihnen Kerenski Panzerwagen, die sich gerade anschickten, ihn zu verlassen, und Infanterie, über die er nicht verfügte. Er vernahm als Antwort, die Regimenter würden bald alle Fragen erwägen und "an das Satteln der Pferde gehen". Die Kampfkräfte der sozialrevolutionären Partei gaben überhaupt kein Lebenszeichen von sich. Existieren sie noch? Wo ist überhaupt die Grenze zwischen Sein und Schein. Das im Stab versammelte Offizierskorps verhielt sich gegen Oberkommandierenden und Regierungshaupt "immer herausfordernder". Kerenski behauptet sogar, unter den Offizieren seien Reden geführt worden über die Notwendigkeit seiner Verhaftung. Das Stabsgebäude blieb noch immer ohne Schutz.
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