Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Zarskoje Selo und von der Front eintreffen. Doch diesen nebelhaften Versprechungen wurde kein Glaube geschenkt. Durch die Militärschulen krochen niederdrückende Gerüchte: "Im Stab herrscht Panik, niemand tut was." So war es auch. Kosakenoffiziere, die in den Stab gekommen waren mit dem Vorschlag, die Panzerwagen aus der Michajlow-Manege herauszuholen, fanden Polkownikow an einem Fensterbrett sitzend im Zustande völliger Erschöpfung vor. Die Manege besetzen? "Besetzen Sie, ich habe niemand, ich allein kann nichts machen."
Während der trägen Mobilisierung der Schulen zur Verteidigung des Winterpalais versammelten sich die Minister zu einer Sitzung. Der Platz vor dem Palais und die anliegenden Straßen waren noch frei von Aufständischen. An der Ecke der Morskaja und des Newski hielten bewaffnete Soldaten vorbeifahrende Automobile an und ließen die Insassen aussteigen. Die Menge erging sich in Vermutungen darüber, ob es Soldaten der Regierung oder des Militärischen Revolutionskomitees seien, Die Minister genossen diesmal alle Vorteile ihrer Unpopularität: niemand interessierte sich für sie, und wohl kaum wurden sie unterwegs von jemand erkannt. Es versammelten sich alle, außer Prokopowitsch, den man zufällig in einer Droschke verhaftet hatte, allerdings im Laufe des Tages wieder freiließ.
Im Palais waren noch die alten Diener geblieben. Sie hatten vieles sehen müssen, sich zu wundern aufgehört, aber sind noch nicht von der Furcht erholt. Streng dressiert, in blauer Livree mit rotem Kragen und goldenen Tressen, hielten diese Splitter des Vergangenen im prunkvollen Gebäude eine Atmosphäre der Ordnung und Beständigkeit aufrecht. An diesem sorgenvollen Morgen flößten wohl nur sie allein den Ministern eine Illusion der Macht ein. Erst um 11 Uhr beschloß die Regierung endlich, eines ihrer Mitglieder an die Spitze der Verteidigung zu stellen. General Manikowski hatte bereits bei Tagesanbruch auf die von Kerenski zugedachte Ehre verzichtet. Der andere Militär unter den Regierungsmitgliedern, Admiral Werderewski, war noch unkriegerischer gestimmt. An die Spitze der Verteidigung mußte ein Zivilist treten: Wohlfahrtsminister Kischkin. Über seine Ernennung wurde sogleich ein mit den Unterschriften aller versehener Erlaß an den Senat verfaßt: diese Menschen hatten Zeit, sich mit bürokratischem Firlefanz zu beschäftigen. Dafür aber dachte keiner daran, daß Kischkin als Mitglied der Kadettenpartei den Soldaten im Hinterlande und an der
Front doppelt verhaßt war. Kischkin seinerseits wählte sich als Gehilfen Paltschinski und Rutenberg. Schützling der Industriellen und Förderer von Aussperrungen, genoß Paltschinski den Haß der Arbeiter. Ingenieur Rutenberg war Adjutant Sawinkows gewesen, den sogar die allumfassende Partei der Sozialrevolutionäre als Kornilowianer ausgeschlossen hatte. Der des Verrates verdächtigte Polkownikow wurde entlassen. An seiner Stelle General Bagratuni ernannt, der sich in nichts von ihm unterschied.
Obwohl die Stadttelephone des Winterpalais und des Stabes ausgeschaltet waren, blieb das Palais durch eigene Anschlüsse in Verbindung mit den wichtigsten Ämtern, insbesondere mit dem Kriegsministerium, von wo aus eine direkte Leitung zum Hauptquartier führte. Es ist wahrscheinlich, daß in der Eile auch nicht alle Stadtapparate ausgeschaltet worden waren. In militärischer Hinsicht war das allerdings ohne Bedeutung, moralisch - verschlimmerte dies eher die Lage der Regierung, denn es raubte ihr die Illusionen.
Die Leiter der Verteidigung forderten seit dem Morgen lokale Verstärkungen, in Erwartung jener von der Front. Der eine oder der andere in der Stadt versuchte ihnen zu helfen. Der an dieser Sache eng beteiligte Doktor Feit, Mitglied des Zentralkomitees der sozialrevolutionären Partei, erzählte einige Jahre später in einer Gerichtsverhandlung von der "seltsamen, blitzartigen Veränderung in der Stimmung der Truppenteile". Aus zuverlässigsten Quellen meldete man die Bereitschaft dieses oder jenes Truppenteils, sich zur Verteidigung der Regierung zu erheben, doch genügte ein direkter telephonischer Anruf, und ein Truppenteil nach dem andern sagte rundweg ab. "Das Resultat ist Ihnen bekannt", sagte der alte Narodniki "keiner rückte an, und das Winterpalais wurde genommen." In Wirklichkeit hatten keinerlei blitzartige Veränderungen in der Garnison stattgefunden. Doch die letzten Illusionen der Regierungsparteien stürzten tatsächlich blitzartig zusammen.
Die
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