Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
mysteriöse Radfahrerbataillon blieb unauffindbar. Kerenski selbst war wie von der Erdoberfläche verschwunden. Die Freunde in der Stadt beschränkten sich auf immer lakonischere Teilnahmsäußerungen. Die Minister waren bedrückt. Worüber noch sprechen, worauf noch hoffen? Sie waren einander und ihrer selbst überdrüssig. Die einen saßen stumpfsinnig da, die anderen pendelten automatisch von einer Ecke zur anderen. Zu Verallgemeinerungen neigend, blickten sie zurück in die Vergangenheit, Schuldige suchend. Das Finden fiel nicht schwer: die Demokratie! Sie hat sie in die Regierung geschickt, ihnen eine große Last auferlegt und sie im Augenblick der Gefahr ohne Hilfe gelassen. Diesmal waren Kadetten und Sozialisten völlig solidarisch: ja, schuld ist die Demokratie. Zwar hatten beide Gruppen, die Koalition eingehend, sogar der ihnen so nahestehenden Demokratischen Beratung den Rücken gekehrt. In der Unabhängigkeit von der Demokratie bestand ja die Hauptidee der Koalition. Doch gleichwie: zu welchem Zwecke existiert die Demokratie, wenn nicht zur Rettung der in Not geratenen bürgerlichen Regierung? Landwirtschaftsminister Maslow, rechter Sozialrevolutionär, schrieb einen von ihm selbst als posthum bezeichneten Zettel: feierlich verpflichtete er sich, nicht anders zu sterben als mit Flüchen an die Adresse der Demokratie auf den Lippen. Von dieser seiner schicksalsschweren Absicht beeilten sich seine Kollegen telephonisch der Duma Mitteilung zu machen. Der Tod blieb zwar im Stadium eines Projektes, an Flüchen allerdings war kein Mangel.
Oben, neben der Kommandantur, befand sich ein Speiseraum, wo Hoflakaien den Herren Offizieren ein "köstliches Essen mit Wein" servierten. Man konnte hier für eine Weile die Unbilden vergessen. Die Offiziere rechneten die Rangstufen nach, stellten neidische Vergleiche an, fluchten über die saumselige Produktion unter der neuen Macht. Besonders bekam es Kerenski; gestern habe er im Vorparlament geschworen, auf seinem Posten zu sterben, und heute sei er, als Krankenschwester verkleidet, aus der Stadt geflüchtet. Einige Offiziere versuchten den Regierungsmitgliedern die Sinnlosigkeit eines weiteren Widerstandes zu beweisen. Der energische Paltschinski erklärte sie für Bolschewiki und versuchte sogar, sie zu verhaften.
Die Junker wollten wissen, was weiter werden solle, und forderten von der Regierung Antworten, die zu geben diese unfähig war. Während der neuerlichen Besprechung der Junker mit den Ministern traf Kischkin aus dem Hauptstab ein mit dem dorthin durch einen Radfahrer ans der Peter-Paul-Festung überbrachten und dem Generalquartiermeister Po-radelow eingehändigten Ultimatum mit Antonows Unterschrift: sich ergeben und die Garnison des Winterpalais entwaffnen, andernfalls wird aus den Geschützen der Festung und der Kriegsschiffe Feuer eröffnet: zwanzig Minuten Bedenkzeit. Diese Frist war zu kurz. Poradelow erwirkte weitere zehn Minuten. Die militärischen Mitglieder der Regierung, Manikowski und Werderewski, gingen an die Sache einfach heran: kann man nicht kämpfen, muß man an Übergabe denken, das heißt das Ultimatum annehmen. Doch die Zivilminister blieben unbeugsam. Schließlich wurde beschlossen, das Ultimatum nicht zu beantworten, sondern sich an die Stadtduma zu wenden, als das einzige gesetzliche Organ in der Hauptstadt. Der Appell an die Duma war ein letzter Versuch, das eingeschlafene Gewissen der Demokratie zu wecken.
Poradelow, der die Einstellung des Widerstandes für notwendig hielt, ersuchte um Enthebung von seinem Posten: ihm "fehlt die Überzeugung von der Richtigkeit des seitens der Provisorischen Regierung eingeschlagenen Weges". Die Schwankungen des Obersten fanden ihre Lösung, ehe noch seine Demission angenommen werden konnte. Nach Ablauf der halbstündigen Frist besetzte eine Abteilung Rotgardisten, Matrosen und Soldaten unter Führung eines Fähnrichs des Pawlowsker Regiments, ohne auf Widerstand zu stoßen, den Hauptstab und verhaftete den mutlos gewordenen Generalquartiermeister. Die Einnahme des Hauptstabes wäre eigentlich längst möglich gewesen; das Gebäude war von innen völlig ungeschützt. Doch vor dem Erscheinen der Panzerwagen auf dem Platze befürchteten die Belagerer, sie könnten durch einen Ausfall der Junker aus dem Winterpalais abgeschnitten werden.
Nach Verlust des Stabes fühlte sich das Winterpalais noch verwaister. Aus dem Malachitsaal, dessen Fenster auf die Newa gingen und sich gleichsam einem Aurora
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