Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
ungeahnte Bedeutsamkeit. Das Wort verlangt Martow. Der Moment, wo die Waagschalen noch schwanken, ist sein Moment, dieses erfinderischsten Politikers der ewigen Schwankungen. Mit seiner heiseren, tuberkulösen Stimme reagiert Martow sogleich auf die metallische Stimme der Geschütze: "Es ist unbedingt notwendig, die Kriegshandlungen auf beiden Seiten einzustellen ... Die Frage der Macht begann man mittels einer Verschwörung zu entscheiden ... Alle revolutionären Parteien sind vor eine vollendete Tatsache gestellt worden ... Der Bürgerkrieg droht mit dem Ausbruch der Konterrevolution. Die friedliche
Lösung der Krise kann nur durch Schaffung einer Macht erreicht werden, die von der gesamten Demokratie anerkannt ist." Ein beträchtlicher Teil des Kongresses applaudiert. Suchanow bemerkt ironisch: "Viele und viele Bolschewiki, die den Geist der Lehre von Lenin und Trotzki nicht erfaßt haben, wären wohl froh, ebendiesen Weg zu gehen." Dem Vorschlag zu friedlichen Verhandlungen schließen sich die linken Sozialrevolutionäre und die Gruppe der vereinigten Internationalisten an. Der rechte Flügel, vielleicht aber auch Martows nächste Gesinnungsgenossen sind überzeugt, die Bolschewiki werden den Vorschlag ablehnen. Sie irren. Die Bolschewiki schicken auf die Tribüne ihren friedliebendsten, samtweichen Redner, Lunatscharski: "Die Fraktion der Bolschewiki hat absolut nichts gegen Martows Vorschlag." Die Gegner sind verblüfft. "Lenin und Trotzki kommen ihren eigenen Massen entgegen", kommentiert Suchanow, "und entreißen damit gleichzeitig den Rechten den Boden unter den Füßen." Martows Vorschlag wird einstimmig angenommen. "Gehen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre jetzt weg, dann haben sie selbst über sich das Kreuz g3-stellt", erwägt man in Martows Gruppe. Man dürfe deshalb hoffen, daß der Kongreß "den richtigen Weg zur Schaffung einer demokratischen Einheitsfront betreten wird". Eine Hoffnung! Eine Revolution bewegt sich niemals nach der Diagonale.
Der rechte Flügel verletzt sofort die soeben gebilligte Initiative zu friedlichen Verhandlungen. Der Menschewik Charasch, Delegierter der 12. Armee, mit Hauptmannssternen auf den Achseln, gibt eine Erklärung ab: "Politische Heuchler schlagen vor, über die Frage der Macht zu entscheiden. Indes wird sie hinter unsere Rucken entschieden ... Die Schläge gegen das Winterpalais treiben Nägel in den Sarg jener Partei, die ein solches Abenteuer unternommen hat ... " Die Herausforderung des Hauptmanns beantwortet der Kongreß mit empörtem Murren.
Leutnant Kutschin, der in der Staatsberatung in Moskau im Namen der Front gesprochen hatte, versucht auch hier durch die Autorität der Armeeorganisationen zu wirken: "Dieser Kongreß ist unzeitgemäß und sogar unrechtmäßig." In wessen Namen sprechen Sie? rufen die zerfetzten Uniformmäntel, auf denen das Mandat mit dem Lehm der Schützengräben geschrieben steht. Kutschin zählt sorgfältig elf Armeen auf Doch hier kann das niemand täuschen. An der Front wie im Hinterlande sind die Generale des Versöhnlertums ohne Soldaten geblieben. Die Frontgruppe, fährt der men-schewistische Leutnant fort, "lehnt jede Verantwortung für die Folgen dieses Abenteuers ab"; das bedeutet: völliger Bruch mit der Revolution. "Von nun an wird die Kampfarena in die einzelnen Orte verlegt"; das bedeutet: Vereinigung mit der Konterrevolution gegen die Sowjets. Und als Abschluß: "die Frontgruppe ... verläßt diesen Kongreß".
Einer nach dem anderen besteigen Vertreter der Rechten die Tribüne. Sie haben Pfarren und Kirchen verloren, aber in ihren Händen sind die Glockenstühle geblieben; sie beeilen sich zum letztenmal, die gesprungenen Glocken läuten zu lassen. Sozialisten und Demokraten, die mit allen Mitteln die Verständigung mit der imperialistischen Bourgeoisie verwirklicht hatten, lehnen heute kategorisch eine Verständigung mit dem aufständischen Volke ab. Ihre politische Efe-rechnung liegt auf der Hand: die Bolschewiki werden in wenigen Tagen herunterpurzeln; man muß sich so schnell wie möglich von ihnen abgrenzen, sogar sie stürzen helfen, um damit sich und die eigene Zukunft möglichst zu sichern.
Im Namen der Fraktion der rechten Menschewiki gibt Chintschuk, ehemaliger Vorsitzender des Moskauer Sowjets und künftiger Sowjetgesandter in Berlin, eine Erklärung ab. "Die militärische Verschwörung der Bolschewiki ... stürzt das Land in Bruderkrieg, sprengt die Konstituierende Versammlung, droht mit einer
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