Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
stimmten diesmal ab, nicht für eine Resolution, nicht für einen Aufruf, sondern für einen Regierungsakt von unermeßlicher Bedeutung.
Höret, Völker! Die Revolution bietet euch den Frieden an. Man wird sie der Verletzung von Verträgen anklagen. Aber sie ist stolz darauf Bündnisse blutiger Raubgier zu zerreißen, ist größtes historisches Verdienst. Die Bolschewiki haben's gewagt. Sie allein haben es gewagt. Stolz sprengt die Brust. Die Augen brennen. Alle haben sich erhoben. Niemand raucht mehr. Es scheint, als atme niemand. Präsidium, Delegierte, Gäste, Wachen verschmelzen in den Hymnus des Aufstandes und der Verbrüderung. "Plötzlich, wie auf einen gemeinsamen Impuls", wird John Reed, Beobachter und Teilnehmer, Chronist und Poet der Umwälzung, uns bald erzählen, "standen wir alle und fielen in die aufrüttelnden Klänge der "Internationale" ein. Ein alter, ergrauter Soldat weinte wie ein Kind. Alexandra Kollontay blinzelte mit den Augen, um nicht in Tränen auszubrechen. Die mächtigen Klänge brausten durch den Saal, drangen durch Fenster und Türen und stiegen zum Himmel empor." Zum Himmel? Eher zu den herbstlichen Schützengräben, die das unglückliche gekreuzigte Europa durchschnitten, zu dessen verwüsteten Städten und Dörfern, zu den Frauen und Müttern in Trauer. "Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hunger zwang!" Die Worte der Hymne befreiten sich von ihrem bedingten Charakter. Sie verschmolzen mit dem Regierungsakt. Deshalb klang aus ihnen die Kraft der direkten Tat. Jeder fühlte sich größer und bedeutender in dieser Stunde. Das Herz der Revolution dehnte sich aus über die ganze Welt. "Uns aus dem Elend zu erlösen ..." Den Geist der Selbständigkeit, Initiative, Kühnheit, jene glückseligen Gefühle, deren die Unterdrückten unter den üblichen Lebensbedingungen beraubt sind, das brachte jetzt die Revolution ... "Das können nur wir selber tun!" Wir, die Millionen, die Monarchie und Bourgeoisie gestürzt haben, werden jetzt den Krieg erdrosseln. Der Rotgardist des Wyborger Bezirks, der graue Frontler mit der Narbe, der alte Revolutionär, der Jahre Katorga hinter sich hat, der junge schwarzbärtige Matrose von der Aurora , alle schwören, den letzten, entscheidenden Kampf zu Ende kämpfen zu wollen. "Wir wollen neu die Welt erbauen!" Erbauen. In diesem Wort, das sich der menschlichen Brust entrang, waren schon die späteren Jahre des Bürgerkrieges und die künftigen Fünfjahrpläne der Arbeit und Entbehrungen enthalten. "Nichts sind wir, laßt uns alles sein!" Alles! Wenn mehr als einmal die Wirklichkeit der Vergangenheit zum Liede wurde, warum soll nicht ein Lied morgige Wirklichkeit werden? Die Schützengrabenmäntel scheinen nicht mehr Zuchthausgewänder. Die Pelzmützen mit der hervorquellenden Watte sitzen auf andere Art über den leuchtenden Augen. "Die Internationale, das wird die Menschheit sein!" Ist es denn auch denkbar, daß sie nicht sein, nicht erstehen wird aus Unglück und Erniedrigung, aus Schmutz und Blut des Krieges?
"Das gesamte Präsidium mit Lenin an der Spitze stand und sang mit erregten, vergeistigten Gesichtern und brennenden Augen." So bezeugt der Skeptiker, der schweren Gefühls einem fremden Fest zuschaut. "Wie gern wollte ich mich ihm anschließen", gesteht Suchanow, "in Gefühl und Stimmung mit dieser Masse und ihren Führern verschmelzen. Aber ich konnte nicht ... "
Es verklang der letzte Laut des Refrains, aber noch immer stand der Kongreß zu einer menschlichen Masse verschmolzen, verzaubert von der Größe des Erlebten. Die Blicke vieler blieben haften auf der kleinen, untersetzten Gestalt des Mannes auf der Tribüne, mit dem ungewöhnlichen Kopf, den einfachen Zügen des breitknochigen Gesichts, jetzt durch das rasierte Kinn verändert, mit durchdringendem Blick der kleinen, etwas mongolenhaften Augen. Vier Monate war er fern gewesen, sein Name hatte sich inzwischen von dein lebendigen Bilde fast getrennt. Doch nein, er ist kein Mythos, da steht er mitten unter den Seinen - wie viele "Seine" gibt es jetzt! - mit den Blättern der Friedensbotschaft an die Völker in den Händen. Sogar die Allernächsten, jene, die seinen Platz in der Partei gut kannten, empfanden zum erstenmal restlos, was er für die Revolution, für das Volk, für die Völker bedeutete. Das hat er erzogen. Das hat er g3-lehrt. Eine Stimme aus der Tiefe der Versammlung schrie einen Hochruf auf den Führer. Als habe der Saal nur auf dies Signal gewartet. Hoch
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