Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Lenin! Überstandene Aufregungen, überwundene Zweifel, Stolz auf das Beginnen, Triumph des Sieges, große Hoffnungen, - alles verschmolz im vulkanischen Ausbruch von Dankbarkeit und Begeisterung. Der skeptische Zeuge bemerkt trocken: "Zweifellos ein Aufschwung der Stimmung ... Man grüßte Lenin, schrie hoch, warf Mützen in die Luft. Der Trauermarsch wurde gesungen, zum Andenken an die Kriegsopfer. Und wieder Applaus, Schreie und Werfen der Mützen."
Das, was der Kongreß in diesen Minuten durchlebte, durchlebte, wenn auch nicht so konzentriert, am nächsten Tag das ganze Volk. "Man muß sagen", schreibt Stankewitsch in seinen Erinnerungen, "daß die kühne Geste der Bolschewiki, ihre Fähigkeit, über die Stacheldrähte hinwegzuschreiten, die vier Jahre lang uns von den Nachbarvölkern getrennt gehalten haben, an sich gewaltigen Eindruck machte." Plumper, doch nicht weniger deutlich, drückt sich Baron Budberg in seinem Tagebuch aus: "Die neue Regierung des Genossen Lenin entlud sich mit einem Dekret über sofortigen Frieden ... Es ist im Augenblick ein genialer Schachzug, um die Soldatenmassen für sich zu gewinnen; ich konnte dies an der Stimmung in mehreren Regimentern beobachten, die ich heute bereist habe. Lenins Telegramm über einen sofortigen Waffenstillstand für drei Monate und darauffolgenden Frieden hat überall kolossalen Eindruck gemacht und einen Freudensturm ausgelöst. Jetzt sind uns die letzten Chancen auf Rettung der Front genommen." Unter Rettung der von ihnen zugrunde gerichteten Front verstanden diese Menschen schon längst nur die Rettung der eigenen sozialen Positionen.
Würde die Revolution in sich die Entschlossenheit gefunden haben, im März-April über die Stacheldrähte hinwegzuschreiten, sie hätte damals noch vermocht, die Armee eine Zeitlang zusammenzuhalten, vorausgesetzt, daß sie sie gleichzeitig auf die Hälfte oder ein Drittel herabgesetzt und somit für die Außenpolitik eine Position von außerordentlicher Stärke geschaffen hätte. Aber die Stunde mutiger Taten schlug erst im Oktober, wo auch nur einen Teil der Armee zu retten, und wenn auch nur für eine kurze Frist, bereits undenkbar war. Das neue Regime mußte auf seine Schultern nehmen nicht nur die Kosten für den Krieg des Zarismus, sondern auch für den verschwenderischen Leichtsinn der
Provisorischen Regierung. In dieser furchtbaren, für alle anderen Parteien hoffnungslosen Situation konnte nur der Bolschewismus das Land auf einen offenen Weg hinausführen, indem er durch die Oktoberumwälzung unerschöpfliche Quellen der Volksenergie erschloß.
Lenin ist wieder auf der Tribüne, diesmal mit Blättchen des Bodendekrets. Er beginnt mit Anklagen gegen die gestürzte Regierung und die Versöhnlerparteien, die durch Verschleppung der Bodenfrage das Land zum Bauernaufstand gebracht haben. "Wie Lug und feiger Betrug klingen ihre Worte über Pogrome und Anarchie im Dorfe. Wo und wann wurden Pogrome und Anarchie durch vernünftige Maßnahmen hervorgerufen?" ... Der Dekretentwurf ist nicht vervielfältigt zum Verteilen: der Redner hält in den Händen das einzige Exemplar in Rohfassung, und es ist, nach Suchanows "Erinnerungen", "so schlecht niedergeschrieben, daß Lenin beim Lesen stolpert, sich nicht zurechtfindet und schließlich abbricht. Jemand aus der auf der Tribüne zusammengedrängten Menge kommt ihm zu Hilfe. Lenin überläßt diesem willig den Platz und das unleserliche Papier". Diese Unebenheiten verringern aber in den Augen des plebejischen Parlaments nicht um ein Jota die Größe des Sichvollziehenden.
Der Kern des Dekrets ist in den zwei Zeilen des ersten Punktes enthalten: "Das gutsherrliche Eigentumsrecht an Grund und Boden wird mit sofortiger Wirkung ohne jede Entschädigung aufgehoben." Über Guts-, Kron-, Kloster-und Kirchenländereien mit lebendem und totem Inventar verfügen bis zur Konstituierenden Versammlung die Gemeinde-Landkomitees und die Kreissowjets der Bauerndeputierten. Der konfiszierte Besitz wird als Volksvermögen erklärt und unter den Schutz der Lokalsowjets gestellt. Der Boden der werktätigen Bauern und Kosaken ist vor Konfiskation gesichert. Das gesamte Dekret zählt keine drei Dutzend Zeilen: es durchhaut den gordischen Knoten mit dem Beil.
Dem Haupttext ist eine etwas umfangreichere Instruktion angeschlossen, die restlos den Bauern selbst entlehnt ist. In den Iswestja der Bauernsowjets war am 19. August eine Zusammenstellung von 242 "Instruktionen" veröffentlicht, erteilt von
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