Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
der radikale Advokat. Die Matrosen aber fühlten voller Stolz: "Ja, wir waren Sklaven, und wir haben uns erhoben!"
Durch die Ungeniertheit, mit der er die demokratische öffentliche Meinung behandelte, rief Kerenski dauernd halbe Konflikte mit den Sowjetführern hervor, die zwar den gleichen Weg gingen wie er, aber doch mehr auf die Massen abgestimmt. Bereits am 8. März erklärte das über die Proteste von unten erschrockene Exekutivkomitee Kerenski, die Freilassung verhafteter Polizisten sei unzulässig. Einige Tage später sahen sich die Versöhnler gezwungen, zu protestieren gegen die Absicht des Justizministers, die Zarenfamilie nach England hinauszulassen. Nach weiteren zwei, drei Wochen erhob das Exekutivkomitee allgemein die Frage nach "Regulierung der Beziehungen" zu Kerenski. Aber diese Beziehungen wurden nicht reguliert und konnten nicht reguliert werden. Ebenso unglückselig gestaltete sich die Sache mit der Parteilinie. Auf dem Kongreß der Sozialrevolutionäre Anfang Juli fiel Kerenski bei der Wahl zum Zentralkomitee durch; er erhielt 135 von 270 Stimmen. Wie wanden sich die Führer nach links und nach rechts, um klarzumachen, daß "für den Genossen Kerenski viele nicht gestimmt haben, weil er schon zu sehr überlastet ist". In Wirklichkeit vergötterten zwar die Stabs- und Departements-Sozialrevolutionäre Kerenski als die Quelle allen Segens, aber bei den alten, mit den Massen verbundenen Sozialrevolutionären genoß er weder Achtung noch Vertrauen. Ohne Kerenski konnte indes weder das Exekutivkomitee noch die Partei der Sozialrevolutionäre auskommen: er war unentbehrlich als Bindeglied der Koalition.
Im Sowjetblock gehörte die führende Rolle den Menschewiki: sie erfanden die Beschlüsse, das heißt die Mittel, Taten auszuweichen. Doch im Staatsapparat waren die Narodniki den Menschewiki offensichtlich überlegen, was in der dominierenden Stellung Kerenskis zum Ausdruck kam. Halb Kadett, halb Sozialrevolutionär, war Kerenski in der Regierung nicht Vertreter der Sowjets wie Zeretelli oder Tschernow, sondern das lebendige Bindeglied zwischen Bourgeoisie und Demokratie. Zeretelli-Tschernow verkörperten eine Seite der Koalition. Kerenski war die personelle Verkörperung der Koalition selbst. Zeretelli klagte wegen des Überwiegens "persönlicher Momente" bei Kerenski, ohne zu begreifen, daß sie nicht zu trennen waren von seiner politischen Funktion. Zeretelli erließ als Innenminister ein Rundschreiben, wonach der Gouvernements-Kommissar sich auf alle lokalen "lebendigen Kräfte", das heißt auf Bourgeoisie und die Sowjets zu stützen und die Politik der Provisorischen Regierung durchzuführen hätte, ohne "Parteieinflüssen" nachzugehen. Dieser ideale, sich über feindliche Klassen und Parteien erhebende Kommissar, der nur aus sich selbst und aus dem Rundschreiben seine Berufung schöpfen sollte - das eben ist der Kerenski im Gouvernements- oder Kreismaßstabe. Zur Krönung des Systems war ein unabhängiger Allrussischer Kommissar im Winterpalais nötig. Ohne Kerenski wäre das Versöhnlertum dasselbe gewesen wie eine Kirchenkuppel ohne Kreuz.
Die Geschichte von Kerenskis Aufstieg ist sehr belehrend. Justizminister wurde er dank dem Februaraufstande, den er gefürchtet hatte. Die Aprildemonstration der "meuternden Sklaven" machte ihn zum Kriegs- und Marineminister. Die Julikämpfe, hervorgerufen von "deutschen Agenten", stellten ihn an die Spitze der Regierung. Anfang September wird die Massenbewegung das Regierungshaupt auch noch zum Höchstkommandierenden machen. Die Dialektik des Versöhnlerregimes, und zugleich dessen böse Ironie, bestand darin, daß die Massen durch ihren Druck Kerenski auf den höchsten Punkt emporheben mußten, bevor sie ihn stürzten.
Während er verächtlich das Volk abwehrte, das ihm die Macht gegeben hatte, haschte Kerenski um so gieriger nach Zeichen der Anerkennung der gebildeten Gesellschaft. Bereits in den ersten Revolutionstagen erzählte der Arzt Kisch-kin, Führer der Moskauer Kadetten, bei seiner Rückkehr aus Petrograd: "Ohne Kerenski würde das, was wir haben, nicht existieren. Mit goldenen Lettern wird sein Name auf den Tafeln der Geschichte eingetragen werden." Liberale Lobpreisungen zählten für Kerenski zu den wichtigsten politischen Kriterien. Aber er konnte und wollte nicht seine Popularität der Bourgeoisie einfach zu Füßen legen. Im Gegenteil, er gewann immer mehr Geschmack daran, alle Klassen zu seinen eigenen Füßen zu sehen. "Der Gedanke,
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