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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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föderativen Republik der Vereinigten Staaten. «Während sich hier alle Autorität von der Gesellschaft ableitet und von ihr abhängig ist, ist die Gesellschaft selbst in so viele Teile, Interessen und Schichten von Bürgern aufgesplittert, daß den Rechten einzelner oder der Minderheit nur wenig Gefahr von Interessenzusammenschlüssen der Mehrheit droht … In einer freiheitlichen politischen Ordnung muß die Sicherung für bürgerliche Rechte dieselbe sein wie die für religiöse Rechte … Gerechtigkeit ist das Ziel der Regierung. Sie ist das Ziel der bürgerlichen Gesellschaft (Justice is the end of government. It is the end of civil society).»[ 215 ]
    Die Gewalt, auf die Madison in «No. 51» nicht einging, behandelte Hamilton in «No. 78»: die Judikative. Der Autor gab Montesquieu recht, daß die rechtsprechende Gewalt unvergleichlich viel schwächer sei als die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt, zitierte aber auch das Verdikt des französischen Staatsdenkers, daß es keine Freiheit gebe, wenn die richterliche Gewalt nicht von der legislativen und exekutiven getrennt sei. Bei einer eingeschränkten Verfassung (limited Constitution) sei die völlige Unabhängigkeit der Gerichtshöfe besonders wichtig und als Garantie derselben die Ernennung von Richtern auf Lebenszeit (unter dem aus England übernommenen Vorbehalt «during good behaviour», was man am besten mit «untadeliger Lebensführung» übersetzt). «Unter einer eingeschränkten Verfassung verstehe ich eine solche, die die Vollmachten der Legislative in bestimmten, einzeln aufgeführten Fällen beschränkt; daß sie beispielsweise keine Proskriptionsgesetze (Verbannungsgesetze, H.A.W.), keine Gesetze mit rückwirkender Kraft (ex-post-facto laws) und dergleichen erlassen darf. Einschränkungen dieser Art können in der Praxis auf keinem anderen Weg aufrechterhalten werden als durch Gerichtshöfe, deren Pflicht es sein muß, alle Beschlüsse, die dem manifesten Inhalt der Verfassung zuwiderlaufen, für null und nichtig zu erklären. Ohne eine solche Regelung wären die Vorbehalte in bezug auf bestimmte Rechte oder Privilegien bedeutungslos.»
    Es war das Prinzip des «judicial review», der richterlichen Normenkontrolle, das Hamilton damit proklamierte – ein Grundsatz, der in der Verfassung nicht ausdrücklich verankert und in der Praxis erst 1803 durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes («Marbury v. Madison») durchgesetzt wurde. Hamilton räumte ein, daß, um das von ihm postulierte Recht der Gerichtshöfe, Beschlüsse der Legislative für null und nichtig zu erklären, wenn sie im Widerspruch zur Verfassung stünden, einige Verwirrung entstanden sei. Aber er hielt an der Notwendigkeit des «judicial review» fest: «Die Auslegung der Gesetze ist die den Gerichten eigene und angemessene Aufgabe. Eine Verfassung ist faktisch ein grundlegendes Gesetz und muß von den Richtern auch als solches betrachtet werden. Es obliegt ihnen daher, ihre Bedeutung ebenso zu ermitteln wie die Bedeutung irgendeines sehr speziellen Gesetzes, das von den Legislativkörperschaften erlassen wird. Wenn es zwischen beiden einen unvereinbaren Widerspruch geben sollte, dann sollte natürlich das, was übergeordnete Verbindlichkeit und Gültigkeit besitzt, den Vorrang haben, oder in anderen Worten: Die Verfassung sollte Vorrang vor dem Gesetz, die Absicht des Volkes Vorrang vor der Absicht seiner Vertreter haben.»
    Mit dieser Schlußfolgerung wollte Hamilton keineswegs der Meinung Vorschub leisten, daß die richterliche Gewalt der gesetzgebenden überlegen sei. Das Recht auf gerichtliche Normenkontrolle bedeute nur, «daß die Macht des Volkes beiden überlegen ist und daß dann, wenn der in ihren Gesetzen zum Ausdruck gebrachte Wille der Legislative im Widerspruch zu dem in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes steht, die Richter sich eher von letzterem als von ersterem leiten lassen sollten. Sie sollten sich in ihren Entscheidungen eher an die fundamentalen Gesetze halten als an jene, die nicht fundamental sind (They ought to regulate their decisions by the fundamental laws, rather than by those which are not fundamental).» Die (höchsten) Richter als Hüter der Verfassung und damit als Treuhänder des Volkes: Das war der Kern der Rechtfertigung des «judicial review» durch Hamilton.[ 216 ]
    In «Federalist No. 14» hatte Madison eine rhetorische Frage gestellt: «Macht es nicht die Größe des amerikanischen Volkes aus, daß es, auch

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