Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
deal», einer anständigen Behandlung, und machte daraus die beherrschende Parole seiner Wahlkampagne von 1904.
Während seiner zweiten Amtszeit tat der Präsident alles, um den Worten Taten folgen zu lassen. 1906 verschaffte ein Gesetz der Interstate Commerce Commission die Möglichkeit, mehr als bisher Einsicht in das Geschäftsgebaren der Eisenbahngesellschaften zu nehmen. Als die amerikanische Öffentlichkeit 1906 durch ein Buch des sozialistischen Schriftstellers Upton Sinclair mit dem Titel «The Jungle» über unhygienische Zustände in der Fleischverpackungsindustrie von Chicago aufgeschreckt wurde, sorgte Roosevelt für Abhilfe durch ein Bundesgesetz, den Pure Food and Drug Act, der scharfe Kontrollen erlaubte. Wäre es nach dem Präsidenten gegangen, hätte der Staat noch sehr viel mehr Möglichkeiten erhalten, in das Wirtschaftsleben einzugreifen. Seit 1907 legte er Vorschläge für die Einführung des Achtstundentages, eine angemessene Entschädigung für die Opfer von Betriebsunfällen, Erbschafts- und Einkommensteuer sowie eine wirksame Börsenaufsicht vor, konnte sich damit aber gegen den Widerstand des konservativen Flügels der Republikanischen Partei nicht durchsetzen.
Zu Auseinandersetzungen mit den konservativen Republikanern kam es auch über dem, was wir heute «Umweltpolitik» nennen. Der leidenschaftliche Jäger Roosevelt war der erste «Environmentalist» im Präsidentenamt. Als solcher trat er energisch für den Naturschutz und vor allem für die Erhaltung und Pflege der Nationalparks ein (der erste war der in der Yellowstoneschlucht von 1872). Was den rechten Flügel der Republikaner aufbrachte, war die von Roosevelt vorangetriebene öffentliche Kontrolle über weite, noch unbebaute Landflächen. Unterstützung seitens der konservativen Geschäftswelt fand der Präsident hingegen, wenn er Neuland, gestützt auf den National Reclamation Act von 1902, für den Bau von Stauseen, Kanälen und Bewässerungssystemen nutzte: eine Politik, gegen die sich die «conservationists» besonders im Westen der USA immer wieder auflehnten.
In weiten Bereichen seiner inneren Politik war Roosevelt «progressive» in dem Sinn, in dem das «progressive movement» diesen Begriff verstand. Die neue Bewegung war in der Zeit nach 1890 entstanden und erlebte ihre Glanzzeit zwischen 1901 und 1917. Einen starken Rückhalt hatten die «progressives» bei Angehörigen der freien Berufe wie Rechtsanwälten, ärzten und namentlich bei Journalisten und Schriftstellern, von denen einige, die von Roosevelt so genannten «muckrakers» (Schmutzaufrührer), durch die Aufdeckung von Mißständen und Skandalen das größte öffentliche Aufsehen erregten. Die «progressives» kritisierten jede Art von unkontrollierter Machtzusammenballung in Wirtschaft und Politik, von den Großkonzernen bis zu den «Parteimaschinen» nach Art der demokratischen Tammany Hall in New York; sie bestanden auf der Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft und der Bedeutung des sozialen Zusammenhalts; sie traten für eine Beteiligung möglichst vieler an den politischen Entscheidungsprozessen ein. Das vielgelesene «McClure’s Magazine» war eines ihrer Sprachrohre; hier erschienen die Enthüllungsberichte von Ida Tarbell und Lincoln Steffens, zwei der einflußreichsten «muckrakers».
Die «progressives» waren eine vielseitige Reformbewegung. In manchem knüpften sie an die Populisten an. Wie diese forderten sie mehr direkte Demokratie auf gemeindlicher und einzelstaatlicher Ebene, und sie waren damit durchaus erfolgreich: Bis 1916 hatten 45 Staaten «primaries», also Urwahlen der Präsidentschaftskandidaten, gesetzlich vorgeschrieben; elf Staaten, darunter Kalifornien, ermöglichten die Abberufung von Amtsinhabern bis hinauf zum Gouverneur (recall) durch die Wähler, manche auch Gesetzesinitiativen und Referenden; 1916 wurde durch das 17. Amendment die Direktwahl der Mitglieder des amerikanischen Senats eingeführt. Auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht gab es Kontinuität: Der Antimonopolismus der Populisten fand seine Fortsetzung in den Anti-Kartell-Kampagnen der progressiven «trustbusters».
Aber anders als die Populisten waren die «progressives» im allgemeinen nicht antiurban und antiintellektuell; sie sprachen nicht so sehr die Farmer als vielmehr die städtischen Mittelschichten an. Mehr noch: Das «progressive movement» war ein Produkt der Verstädterung der USA. 1870 lebte nur ein Viertel der Amerikaner in Städten mit
Weitere Kostenlose Bücher