Geschichte des Westens
die Zuspitzung des italienisch-abessinischen Konflikts, daß die britisch-französisch-italienische «Stresafront» vom April nur noch auf dem Papier stand. Frankreich war über das selbstherrliche Vorgehen Londons empört. Aber die britische Regierung war auch nicht um ihre Zustimmung gebeten worden, als Frankreich im Mai seinen Beistandspakt mit der Sowjetunion abschloß – ein Abkommen, das im antibolschewistischen Großbritannien schwere Bedenken hervorrief.
Wäre es nach dem britischen Luftfahrtminister Lord Londonderry gegangen, hätte es nicht nur ein Flottenabkommen, sondern auch eineVereinbarung über die zahlenmäßigen Stärken von Royal Air Force und Luftwaffe gegeben. Londonderry wollte die britischen Luftstreitkräfte verstärken, was ihm 1934 nur in sehr bescheidenem Umfang gelang, und gleichzeitig eine Verständigung mit Deutschland auch auf diesem Gebiet erreichen. Im Unterschied zu seinem Vetter Winston Churchill, der schon vor 1933 vor der Gefahr einer deutschen Hochrüstung im Bereich der Luftfahrt gewarnt hatte, sah Londonderry sein Land in dieser Hinsicht für die nächsten Jahre durch das Reich nicht bedroht. Als Hitler Ende März 1935 gegenüber Simon und Eden behauptete, die deutsche Luftwaffe habe bereits die Parität mit der Royal Air Force erreicht, geriet Londonderry unter massiven Druck. Selbst Premierminister MacDonald, von seiner Prägung her ein Pazifist, meinte intern, das Luftfahrtministerium habe die deutsche Luftrüstung «verschlafen».
Am 22. Mai 1935 mußte Londonderry seine Politik im Oberhaus verteidigen. Er fand anerkennende Worte für Hitlers angeblichen Willen zur Rüstungsbeschränkung und befürwortete, ohne konkreten Anlaß, die Möglichkeit zu Bombeneinsätzen an den Grenzen des Empire. Damit brachte er nicht nur die Linke, sondern auch, was noch gefährlicher war, viele seiner konservativen Parteifreunde gegen sich auf. MacDonald, der ihn bisher in Öffentlichkeit und Parlament unterstützt hatte, war amtsmüde, krank und immer weniger fähig, den Anforderungen seines Amtes gerecht zu werden. Am 27. Juni 1935 trat er zugunsten des konservativen Parteiführers Stanley Baldwin, des Regierungschefs der Jahre 1923/24 und 1924 bis 1929, zurück. Dieser machte Londonderry zum Lordsiegelbewahrer und damit zu einem Minister ohne Geschäftsbereich. Das Amt des Luftfahrtministers übernahm ein anderer Tory, der bisherige Kolonialminister Philipp Cunliffe-Lister. Der nationalliberale Außenminister Sir John Simon wechselte ins Innenministerium. Seine Nachfolge trat Sir Samuel Hoare, ein alter Freund Baldwins, an. Schatzkanzler blieb Neville Chamberlain.
Am 18. Oktober 1935, zwei Wochen nach dem Beginn des Abessinienkrieges, bat Baldwin König Georg V. unter Hinweis auf die angespannte internationale Lage um die Auflösung des Unterhauses und Neuwahlen, die spätestens im Oktober des folgenden Jahres fällig gewesen wären. Die Labour Party warf dem Premierminister daraufhin vor, er wolle die Kriegsangst im Volk schüren. Sie selbst trat mit einemBekenntnis zur internationalen Abrüstung und zur kollektiven Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes und einer klaren Absage an höhere britische Militärausgaben an. Die Tories hingegen bezeichneten die Aufrüstung als Bedingung des Friedens, wobei Baldwin das Versprechen abgab, es werde «no great armaments» geben.
Die Antikriegsrhetorik der Labour Party blieb nicht ohne Wirkung. Bei der Unterhauswahl vom 14. November 1935 konnte sie ihren Stimmenanteil gegenüber 1931 um 7,4 Prozentpunkte auf 38 Prozent und die Zahl Mandate von 102 auf 154 steigern. Die Konservativen erreichen 47,8 Prozent, was ein Minus von 7,2 Prozentpunkten bedeutete, und kamen auf 386 Sitze, 83 weniger als bisher. Die oppositionelle liberale Partei kam bei geringen Verlusten auf 6,7 Prozent und 21 Sitze (–11), die mitregierende National Liberal Party mit geringen Gewinnen auf 3,7 Prozent und 33 Mandate (–2). MacDonalds National Labour Party gewann mit einem Stimmenanteil von 1,5 Prozent 8 Sitze, 5 weniger als 1931. Von den übrigen Parteien erzielte keine mehr als 0,7 Prozent. Die Kommunisten hatten im Sinne der neuen Einheitsfronttaktik ihre Bewerbungen in allen bis auf zwei Wahlkreisen zurückgezogen (und einen der beiden auf Kosten von Labour gewonnen). Obwohl die Tories über eine breite Mehrheit im Unterhaus verfügten, nahm Baldwin erneut Mitglieder der National Liberal und der National Labour Party in sein Kabinett auf, das sich
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