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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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mit der faktischen Oberherrschaft der OHL blieb: Das war die
eine
Hoffnung, die die gemäßigten bürgerlichen Parteien und die Mehrheitssozialdemokraten im Herbst 1918 zusammenführte. In der
anderen
Erwartung waren sich diese Parteien ebenfalls einig: Die Parlamentarisierung Deutschlands durch die Verfassungsorgane Reichstag und Bundesrat würde einer Revolution von unten den Boden entziehen – einer Revolution, von der nicht nur Ebert fürchtete, daß sie rasch zu russischen Zuständen führen könnte.
    Parlamentarisierung hieß zunächst einmal Kanzlerwechsel: Graf Hertling, der amtierende Reichskanzler, war nicht bereit, selbst das neue System einzuführen, und er wäre auch von den Sozialdemokraten als Regierungschef nicht akzeptiert worden. Am 30. September trat er zurück. Zu seinem Nachfolger ernannte Wilhelm II. den als moderat geltenden Prinzen Max von Baden, mit dem sich zuvor Ludendorff und die Mehrheitsparteien einverstanden erklärt hatten. Der neuen Reichsleitung gehörten neben Mitgliedern des Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen erstmals auch Sozialdemokraten an: Gustav Bauer, der stellvertretende Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, der an die Spitze des neugebildeten Reichsarbeitsamtes trat, und Philipp Scheidemann, der einer von vier Staatssekretären ohne Portefeuille wurde.
    Am 28. Oktober 1918 wurde der Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Demokratie durch die Änderung der Reichsverfassung von 1871 besiegelt. Fortan war der Reichskanzler vom Vertrauen des Reichstags abhängig. Sprach ihm der Reichstag das Mißtrauen aus, mußte er zurücktreten. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erstreckte sich auf alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Befugnisse vornahm. Der parlamentarischen Kontrolle unterlag damit auch die militärische Kommandogewalt des Kaisers, soweit es sich um Akte von «politischer Bedeutung» handelte. Eine andere Verfassungsänderung war kaum weniger wichtig: Ohne Zustimmung des Reichstags konnte von nun an weder ein Krieg erklärt noch ein Friede geschlossen werden.
    Deutschland war durch die «Oktoberreformen», unter Beibehaltung der monarchischen Staatsform, zu einer Demokratie westlicher Prägung geworden – darin Großbritannien, Belgien, den Niederlandenund den skandinavischen Königreichen ähnlich. Der im Vergleich zu den anderen konstitutionellen Monarchien frühen Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer (1867 im Norddeutschen Bund, 1871 im Deutschen Reich) folgte rund ein halbes Jahrhundert später die Demokratisierung des Regierungssystems im engeren Sinn. Damit war der Grundwiderspruch des Kaiserreichs, der Gegensatz zwischen wirtschaftlicher und kultureller Modernität auf der einen und der Rückständigkeit der vordemokratischen Regierungsweise auf der anderen Seite, endlich aufgehoben.
    Aber die Parlamentarisierung war vorerst nur ein formeller Akt. Ob sie die politische Wirklichkeit bestimmen würde, hing auch von den alten Eliten, obenan dem Militär, ab. Die bloße Tatsache, daß die Parlamentarisierung Deutschlands ursächlich mit seiner militärischen Niederlage zusammenhing, bedeutete eine schwere Vorbelastung der überfälligen Reform. Schon bevor die Verfassungsänderungen in Kraft traten, beantwortete die äußerste Rechte die Bildung der ersten (de facto) parlamentarischen Regierung mit einer Kampfansage an die Demokratie – und die Juden. So forderte etwa am 3. Oktober der Vorsitzende des Allgemeinen Verbandes, Heinrich Claß, die Gründung einer «großen, tapferen und schneidigen Nationalpartei und rücksichtslosesten Kampf gegen das Judentum, auf das all der nur zu sehr berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten Volkes abgelenkt werden muß». Zweieinhalb Wochen später, am 19. und 20. Oktober, gab Claß auf einer Tagung der Hauptleitung und des Geschäftsführenden Ausschusses seines Verbandes die Parole aus, es gelte, «die Lage zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen». Gegen Ende seiner Rede versicherte der Verbandsvorsitzende seinen Zuhörern, er werde vor keinen Mitteln zurückschrecken und sich in dieser Hinsicht an den Ausspruch Heinrich von Kleists halten: «Schlagt sie tot, das Weltgericht/fragt Euch nach den Gründen nicht!»
    Am 4. Oktober 1918, unmittelbar nach ihrer Berufung, ließ die Regierung des

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