Geschichte des Westens
Überraschung der meisten Beobachter die Labour Party, die 393 Abgeordnete stellte, während die Konservativen nur 197 Mandate erlangten. (Die Stimmenanteile der beiden großen Parteien lagen bei 49,7 und 36,2 Prozent; die Liberalen kamen auf 9 Prozent und 12 Sitze.) Im Vordergrund des kurzen Wahlkampfes hatten die Wirtschafts- und die Sozialpolitik gestanden, nicht die Verdienste des Kriegspremiers und seiner Partei. Die Mehrheit der Briten wollte endlich die Reformen verwirklicht sehen, die ihnen während des Krieges durch den Beveridge-Report von 1942 versprochen, aber (mit Ausnahme des Education Act vom August 1944, der das schulpflichtige Alter auf das 15. Lebensjahr anhob und kostenlosen Unterricht auch an öffentlichen höheren Schulen einführte) nicht in Angriff genommen worden waren. Die Labour-Parole «Laßt uns der Zukunft ins Auge sehen» (Let us face the future) war zugkräftiger gewesen als die patriotische Parole, den bewährten Staatsmann Churchill im Amt zu bestätigen. Der Mann an der Spitze der unterlegenen Parteikonnte sich mit der Gewißheit trösten, daß die meisten seiner Landsleute, auch wenn sie für Labour gestimmt hatten, seine historische Leistung sehr wohl zu würdigen wußten: Kein anderer westlicher Regierungschef hatte so viel zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und der Erhaltung der freiheitlichen Demokratie beigetragen wie er – der nunmehr siebzigjährige Winston Churchill.
Sein Nachfolger, der ehemalige Vizepremier und bisherige Oppositionsführer Clement Attlee, hatte von Anfang an auf Bitten Churchills als Mitglied der britischen Delegation an der Potsdamer Konferenz teilgenommen. Mit den Problemen aber, die dort zur Entscheidung anstanden, waren er und der neue Außenminister Ernest Bevin, der an die Stelle von Anthony Eden trat, ungleich weniger vertraut als ihre Vorgänger. In der heiß umstrittenen Frage der polnischen Westgrenze fühlten sich beide nicht an das unerbittliche Nein gebunden, das Churchill der polnischen und sowjetischen Forderung nach der Lausitzer Neiße entgegengesetzt hatte. Das politische Gewicht, das Großbritannien in die Waagschale der «Großen Drei» werfen konnte, wurde seit dem 26. Juli geringer, das der Amerikaner größer: Darin lag die erste außenpolitische Wirkung des Regierungswechsels in London.
Trumans Widerstand in Sachen westliche Neiße war schon in den ersten acht Tagen der Konferenz weniger hart gewesen als der Churchills. Nach dem 26. Juli setzte sich bei den Amerikanern, und vor allem bei Außenminister Byrnes, die Ansicht durch, daß man der sowjetischen Seite im Hinblick auf die Westverschiebung Polens ein gutes Stück entgegenkommen könne, wenn sich Stalin bei einer anderen kontroversen Materie, der Reparationsfrage, kompromißbereit zeige. Dazu kam das Gefühl des Zeitdrucks: Truman wollte zum einen möglichst rasch in die USA zurückkehren, um sich dort wieder ganz dem siegreichen Abschluß des Krieges gegen Japan widmen zu können, zum anderen ging es ihm darum, das Gros der amerikanischen Truppen so schnell wie möglich aus Europa abzuziehen und im Fernen Osten einzusetzen.
Die in Potsdam erzielte Vereinbarung über die polnische Westgrenze war nur scheinbar ein Kompromiß. Die Grenze sollte im Norden unmittelbar westlich von Swinemünde beginnen (womit Stettin an Polen fiel), dann der Oder und der westlichen Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verlaufen. Die deutschen Ostgebiete wurden, mit Ausnahme des nördlichen Ostpreußen, polnischer Verwaltung unterstellt, die endgültige Grenzregelung einem Friedensvertragvorbehalten. Das nördliche Ostpreußen mit Königsberg wurde sowjetischer Verwaltung unterstellt, wobei die Westmächte zusagten, den Anspruch der Sowjetunion auf dieses Gebiet in einem Friedensvertrag zu unterstützen.
Die polnische Verwaltung in den deutschen Ostgebieten bedeutete nicht, daß Polen den Status einer fünften Besatzungsmacht mit Vertretung im Alliierten Kontrollrat erhielt. Völkerrechtlich waren die Verwaltungsbefugnisse in den deutschen Ostgebieten ein Provisorium, tatsächlich aber übte Polen in seinen neuen Westgebieten souveräne Staatsgewalt aus. Damit hatten sich die USA und Großbritannien der Kraft der vollendeten Tatsachen gebeugt: Angesichts der Eroberung der fraglichen Territorien durch die Rote Armee und der anhaltenden Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten sprach alles dafür, daß der Provisoriumsvorbehalt in bezug auf die deutschen
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