Geschichte machen: Roman (German Edition)
beiden Stromschalter an den Stahlboxen um. Ein tiefes, sattes Brummen ertönt, als die Gebläse anlaufen. Die schwarzen Glasplättchen auf der Tastatur stellen sich als Leuchtdioden heraus, denn eine Reihe grüner Achten beginnt zu blinken wie bei einem Videorekorder, dessen Uhr man nicht eingestellt hat. Leo läßt seine Fingerknöchel knacken. Seine Hand schwebt über der Tastatur, er wirft mir einen raschen Blick zu und drückt dann auf einige seiner Funktionstasten, etwas schuldbewußt, wie ein Kaufhauskunde, der es sich nicht verkneifen kann, auf dem ausgestellten Synthesizer den »Flohwalzer« zu klimpern. Die blinkenden Achten stabilisieren sich eine nach der anderen zu verschiedenen Zahlen, und der Bildschirm erwacht zum Leben.
Was hatte ich erwartet? Eine Computersimulation des Urknalls vielleicht. Eine rotierende DNS-Spirale. Fraktale Geometrie. Geheimakten der UNO über die Ausbreitung einer grauenerregenden neuen Seuche. Scrollende Zahlen. Von Spionagesatelliten aufgenommene Fotos. Ein Aktfoto von Teri Hatcher. Präsident Clintons private E-Mailbox. Die Konstruktionspläne einer neuen Geheimwaffe. Close-ups auf einen Kriegsherrn der Cardassianer, der die bevorstehende Invasion der Erde bekanntgibt.
Was bekam ich zu sehen? Einen wolkengefüllten Bildschirm. Keine meteorologischen Wolken, sondern bunte Wolken, Gaswolken vielleicht. Aber auch keine gasförmigen Wolken. Bei näherer Betrachtung sahen sie eher wie Luftströmungen auf den Aufnahmen einer Thermokamera aus. Innerhalb dieser Luftformationen gab es primärfarbige Flächen, deren Ränder als changierende Koronen wirbelten und schäumten und die flirrend das ganze Spektrum durchwaberten. Hypnotisierend. Auch schön, sogar wunderschön. Inzwischen haben allerdings die meisten Bildschirmschoner auch schon einiges zu bieten.
»Was halten Sie davon, Michael?« Leo starrt auf den Bildschirm. Die Farbflächen spiegeln sich auf den Linsen seiner Brille. Sein Gesicht hat wieder diesen gehetzten, hungrigen Blick, der mir schon ein paarmal aufgefallen ist. Obsession. Nicht von Calvin Klein, sondern Obsession von Thomas Mann oder Vladimir Nabokov. Die schmerzerfüllte Gier, Wut und Verzweiflung eines alten Sittenstrolchs, der die junge Schönheit trotz seines schlechten Gewissens mit den Augen verschlingt. Dachte ich damals jedenfalls. Inzwischen sollte ich mich eigentlich daran gewöhnt haben, die Dinge in den falschen Hals zu bekommen.
»Das ist ja wunderschön«, hauche ich, als hätte ich Angst, meine Stimme könne das liebliche Weich der Farben zum Platzen bringen. Ja, Platzen ist das richtige Wort, denn plötzlich merke ich, woran mich diese Formen erinnern. Sie sehenwie glatte Seifenblasen aus. Die träge rotierenden Membranen eines geölten Regenbogens beruhigen das Auge und gleiten tief in die Seele.
»Wunderschön?« Leo läßt den Schirm nicht aus den Augen. Seine rechte Hand umschließt die Maus, und die Formen gleiten weiter. Die Szenenverlagerung auf dem Bildschirm erinnert mich an die Kinobesuche meiner Kindheit. Ich saß allein im Dunkel und mußte noch zwanzig Minuten aushalten, bis endlich die Werbespots von Benson & Hedges oder Bacardi anfingen. Um einem die Zeit zu vertreiben, spielte die Leitung vom Odeon Musik und zeigte eine Light-Show aus psychedelischen Rosa-, Grün- und Orangetönen, die sich auf der Leinwand in einer Lösung tummelten. Ich gaffte mit offenem Mund, in den ganz automatisch eine Schokoladenrosine nach der anderen wanderte, während die Farben ineinander zerflossen und sich die in der Flüssigkeit eingeschlossenen Luftbläschen wie zuckende Amöben über die Leinwand arbeiteten.
»Ja, wunderschön«, bekräftige ich. »Finden Sie etwa nicht?«
»Was glauben Sie denn, was Sie da vor sich haben?«
»Weiß ich nicht genau.« Meine Stimme bleibt beim ehrfürchtigen Flüstern. »Eine Art Gas?«
Jetzt sieht mich Leo zum erstenmal an. »Gas?« Er lächelt freudlos. »Gas, sagt er!« Er schüttelt den Kopf und sieht wieder auf den Bildschirm.
»Was dann?«
»Dabei könnten Sie recht haben«, sagt er fast im Selbstgespräch, »welch ein grauenhafter Scherz. Es könnte wirklich Gas sein.« Ausdauernd und hektisch wie ein Nagetier knabbert er an seiner Unterlippe. Die Haut ist rissig und blutet schon, aber anscheinend merkt er das gar nicht. »Ich werde Ihnen sagen, was Sie da vor sich haben, Michael. Sie werden es nicht glauben, aber ich verrate es Ihnen trotzdem.«
»Nämlich?«
Er deutet mit dem Zeigefinger auf den
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