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Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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Schirm und sagt: »Sehet da! Der
Anus mundi!
Das Arschloch der Welt!« Ich bin verwirrt und leicht schockiert, was ihn belustigt nicken läßt. »Das ist Auschwitz«, sagt er und deutet mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm.
    Ich sehe zwischen Leo und dem Laptop hin und her. »Wie bitte?«
    »Auschwitz. Davon müssen Sie doch gehört haben. Ein Ort in Polen. Berühmt und berüchtigt. Das Arschloch der Welt.«
    »Aber wie meinen Sie das? Ist das ein Foto? Eine Infrarotaufnahme, eine Thermographie, etwas in der Art?«
    »Nein, keine Thermographie. Temporal-Imagination käme der Sache schon näher. Ja, so würde ich das nennen.«
    »Ich komme trotzdem nicht mit.«
    Leo zeigt wieder auf den Bildschirm und sagt: »Das ist das Konzentrationslager von Auschwitz am 9. Oktober 1942.«
    Ich runzle entgeistert die Stirn. Wenn ich bloß nicht so eine lange Leitung hätte.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ich meine das, wie ich es sage. Das ist Auschwitz am 9. Oktober. Drei Uhr nachmittags. Diesen Tag sehen Sie vor sich.«
    Ich starre wieder auf die lieblichen bauschigen Formen in zart wogenden Farben.
    »Sie meinen … ein Film?«
    »Sie fragen immer noch, was ich meine, und ich meine immer noch, was ich sage, aber trotzdem verstehen Sie nicht, was ich meine. Ich
meine
, daß Sie hier gleichzeitig einen Ort und eine Zeit sehen.«
    Ich starre ihn an.
    »Wenn dieses Labor ein Fenster hätte«, sagt Leo, »und Sie hinausschauen würden, dann sähen Sie Cambridge am 5. Juni 1996, stimmt’s?«
    Ich nicke.
    »Dieser Bildschirm funktioniert genauso wie ein Fenster. All diese Formen und Strömungen sind Bewegungen von Männern und Frauen in Auschwitz, Polen, am 9. Oktober 1942. Nennen Sie es meinetwegen Energiesignaturen oder Teilchenspuren.«
    »Sie meinen … Entschuldigung … soll das heißen, daß diese Maschine eine Art Zeitfenster ist?«
    »Eines dieser Gebilde«, fährt Leo fort, ohne von meiner Zwischenfrage Notiz zu nehmen, und seine Augen huschen im Zickzack über den Bildschirm, »eine dieser Farben«, seine Hand gibt der Maus einen Stups, »irgendeine. Eine beliebige, jede davon könnte er sein.«
    »Jede davon könnte wer sein?«
    Er sieht mich kurz an. »Irgendwo auf diesem Bild ist mein Vater.«
    Ich verfolge, wie er hastig seine Suche fortsetzt. Anscheinend läßt sich die Maus wie eine Fernsehkamera bedienen und das Bild in dieser Welt von Farbumrissen schwenken, kippen und zoomen. Er schiebt die Maus ganz nach links, und die ganze Szene dreht sich im Uhrzeigersinn.
    »Mein Vater ist am 8. Oktober in Auschwitz eingetroffen. Soviel weiß ich immerhin. Dort! Glauben Sie, daß er das ist?« Leo zeigt auf eine Form unten im Bild, deren federgleiche Arabesken in zartem Malvenrot schillern. »Vielleicht ist er das. Vielleicht ist es auch ein Hund oder ein Pferd. Ein Baum. Oder eine Leiche. Wahrscheinlich ist es eine Leiche.«
    Leo hat Tränen in den zornigen Augen, Tränen, die ihm über das Gesicht laufen und sich mit den Blutströpfchen seiner aufgebissenen Lippe vereinen. »Ich werde es nie erfahren«, sagt er, bückt sich unter den Tisch und legt die Stromschalter um. »Niemals.«
    Mit statischem Knistern geht der Bildschirm aus. Die Leuchtdiodenzahlen verlöschen. Das leise Summen der Gebläse verklingt nach einem erstickten Umpf. Ich starre stumm auf den leeren Schirm.
    »So, Michael Young«, in einer graziösen Geste fängt Leo mit der gestärkten Hemdmanschette, die unter dem Laborkittel hervorsteht, eine Träne auf. »Jetzt haben Sie Auschwitz gesehen. Ich gratuliere.«
    »Meinen Sie das ernst?«
    »Todernst.« Leos hilfloser Zorn und seine Anspannung sind wie weggeblasen, und plötzlich ist er wieder der ruhige Vader Abraham. Er klappt den Laptop zu und streichelt zärtlich die Maus.
    »Wir haben wirklich in die Zeit zurückgesehen?«
    »Sie sehen jedesmal in die Zeit zurück, wenn Sie nachts den Sternenhimmel betrachten. Das ist doch nichts Besonderes.«
    »Aber Sie konnten einen bestimmten Tag sehen.«
    »Natürlich funktioniert dieses Teleskop etwas anders. Dummerweise ist es auch ziemlich nutzlos. Bloß eine Light-Show. Eine künstlich hergestellte Quantensingularität, die ungefähr so sinnvoll ist wie ein elektrischer Bleistiftspitzer. Nicht mal.«
    »Sie können diese ganzen Farbwirbel nicht in erkennbare Gestalten übersetzen?«
    »Ich nicht.«
    »Aber es wäre möglich?«
    »Eines Tages vielleicht, wenn ich längst unter der Erde bin. Ja. Grundsätzlich ist das möglich. Alles ist möglich.«
    »Was haben

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