Geschichte machen: Roman (German Edition)
furchtbar.«
»Was gehört? Mensch, ich bin gerade erst aufgestanden.«
»Dann schau’s dir an. Hier, wirf mal einen Blick durch!«
Mit zitternden Händen hielt Ernst ihm einen Feldstecher unter die Nase.
Hans setzte seinen Helm auf, stieg murrend die nächste Grabenleiter hoch und schob den Kopf vorsichtig über die Brustwehr des Walls. Ernst Schmitt, der sonst kein Mann vieler Worte war, mußte kurz vor dem Frontkoller stehen, sagte er sich.
»Auf drei Uhr. Links von dem vollgelaufenen Granattrichter. Siehst du?«
»Runter, du Idiot! Oder willst du vielleicht, daß wir beide abgeknallt werden?«
»Da! Siehst du ihn? Mein Gott, jetzt ist alles aus …«
Plötzlich sah Hans, was Ernst meinte.
Gloder lag auf dem Rücken, seine blicklosen Augen starrten in den Sonnenaufgang, seine Elfenbeinkehle klaffte auf, und auf seiner Uniform standen dunkelrote Lachen geronnenen Bluts wie erstarrte Lavaströme. Einen guten Meter neben seiner vorgestreckten Faust stand Oberst Maximilian Baligands Galapickelhaube mit erhobener Spitze, als säße sie noch auf dem Kopf des unter ihr begrabenen Obersten. Über die Schulter hatte er sich nach lässiger Husarenmanier die mit Goldtressen besetzte Ausgehjacke eines französischen Stabsoffiziers geworfen.
Eine Bewegung im Vordergrund stach Hans ins Auge. Zentimeterweise kroch ein Mann aus Richtung der deutschen Gräben bäuchlings auf den Gefallenen zu.
»Mein Gott«, flüsterte Hans. »Das ist Adi!«
»Wo?«
Hans reichte Ernst das Glas. »Scheiße, wenn wir die Franzosen jetzt mit Sperrfeuer bestreichen, entdecken sie ihn auf jeden Fall. Runter, wir nehmen das Periskop. Das ist nicht so riskant.«
Zwanzig Minuten lang schickten sie stille Stoßgebete gen Himmel, während Adi auf den Drahtverhau zu robbte.
»Paß auf, Adi!« wisperte Hans. »Zoll für Zoll, mein Kamerad.«
Adi schob sich an der großen Stacheldrahtrolle zwischen Rudi und ihm entlang, bis er einen mit kleinen Stoffetzen markierten Abschnitt erreichte, eine von den Mineuren gekennzeichnete Öffnung. Nachdem er den Durchlaß hinter sich hatte, kroch er wieder auf die Leiche zu.
Als er sie erreicht hatte –
»Und jetzt?« fragte Ernst.
»Rauch!« antwortete Hans. »Jetzt, wo er da ist, können wir Rauch zwischen ihn und die feindlichen Stellungen legen. Schnell!«
Ernst brüllte nach Rauchpistolen, und Hans beobachtete weiter.
Adi drückte den Kopf in den Dreck und schien blindlings nach der Wunde in Rudis Rücken zu tasten.
»Was macht er denn da?«
»Kann ich mir auch nicht erklären.«
»Vielleicht ist Rudi gar nicht tot!«
»Natürlich ist er tot, hast du seine Augen denn nicht gesehen?«
»Und was soll das dann?«
Hans konnte nichts erkennen, weil sich Adi plötzlich auf alle viere aufrichtete und den Blick auf die Leiche versperrte.
»Herrje, runter, Mann, bist du denn des Wahnsinns?« flüsterte Hans.
Als hätte er ihn gehört, ließ Adi sich wieder fallen und lag reglos neben dem toten Gloder.
»Mein Gott! Ist er getroffen?«
»Das hätten wir gehört.«
»Dann spielt er den toten Mann.«
Hans merkte, daß sich hinter ihm im Graben etwas zusammenballte. Er ließ das Periskop fahren und sah sich um. Ernsts Erregung hatte Dutzende von Männern aufgescheucht. Nein, keine Männer. Die meisten waren noch Knaben. Ein paar von ihnen hatten sich ebenfalls Periskope besorgt und mußten jetzt zu jeder Einzelheit des Geschehens ihren Senf dazugeben. Die anderen sahen Hans mit großen, verängstigten Augen an.
»Warum bewegt er sich nicht? Er rührt sich nicht vom Fleck. Hat er plötzlich kalte Füße bekommen?«
Einen Mann, der regungslos mitten im Niemandsland lag, sah man hier alle Tage. In der einen Sekunde rannte man noch und schlug Haken, in der nächsten lag man stocksteif da und stellte sich tot.
»Adi doch nicht«, sagte Hans, so zuversichtlich er konnte. »Der sammelt bloß seine Kräfte für den Rückweg.« Er konzentrierte sich wieder auf das Periskop. Noch immer keine Bewegung. »Alle Männer mit Rauchpistolen in Position«, kommandierte er.
Wie die Cowboys stiegen sechs Männer mit angelegter Waffe die Leitern hoch.
Hans leckte einen Finger an und prüfte die Windrichtung, bevor er sich wieder hinter das Periskop klemmte. Ohne jede Vorwarnung stand Adi plötzlich auf und wandte sich den feindlichen Linien zu. Er verschränkte seine Arme unter Rudis Leiche, zerrte sie rücklings in Richtung der deutschen Stellungen und hüpfte mit gebeugten Knien wie ein Kosakentänzer.
»Los!«
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