Geschichten aus der Murkelei
ginge
auch das wohl!«
Damit entschwand die Großmutter, als zerginge ein Rauch. Anna Barbara aber erwachte davon, daß eine feine Stimme »Hilfe! Hilfe!«
rief. Sie sprang auf und sah zwei Ratten, von denen trug die eine das ewige Stückchen Brot im Maul, die andere aber das schreiende
Männchen. Anna Barbara griff in die nächste Silbertonne, nahm ein Silberstück und traf die Ratte so geschickt, daß sie das
Männlein fallen ließ und quiekend in ihr Loch fuhr. Mit dem andern Silberstück aber traf sie die andere Ratte, daß sie das
Brot fahrenließ. Dann lief Anna Barbara zu dem Männlein, hob es auf, trug es an den Tisch und setzte es wieder auf den Flaschenkorken.
Da sprach das Männlein: »Du hast mir nun das Leben gerettet, Anna Barbara, denn die Ratten waren sehr böse auf mich und wollten
mich fressen, weil ich ihnen dein Brot nicht lassen mochte. So will ich denn auch nicht weiter in dich dringen, daß du meine
Frau wirst, sondern will dir mit dem allerschärfsten Putzwasser helfen, wenn du mir nur versprichst, mich all dein Lebtage
bei dir zu tragen und mich nie und in keiner Not zu verlassen.«
Anna Barbara aber antwortete: »Putzwassermännlein, das will ich dir gerne versprechen, weil du dich ja um meines Brotes willen
so mutig in Gefahr begeben hast. Und ich will dir auch bestimmt nicht wieder fortlaufen.«
So machten sie ihren Frieden und Vertrag miteinander, |99| und von da an erzürnten sie sich nicht mehr. Sie putzten aber so eifrig, daß sie die vielen Silbertonnen schneller blank bekamen
als die wenigen Kupferfässer. Auf dem Grund der letzten Silbertonne aber fand Anna Barbara eine schöne Silberglocke, und als
sie die schwang, war es ihr, als läute der Küsterjunge das Mittagsglöckchen daheim. Da schwoll ihr vor Sehnsucht nach dem
Heimatdorfe das Herz, und vor Heimweh hielt sie es kaum mehr aus.
Doch die Riegel rasselten wie das vorige Mal, und herein trat nur der böse Hans Geiz. Er prüfte ihre Arbeit, und als er sie
für gut befunden, führte er das Mädchen am Arm in den dritten Keller. Diesmal machte sie keinen Versuch, ihm wegzulaufen,
denn sie wußte, an den Hunden kam sie doch nicht vorbei, und sie durfte ja auch das Putzwassermännlein nicht im Stich lassen.
Im dritten Keller nun standen unendlich viele Tonnen mit roten und gelben Goldstücken. Bei ihrem Anblick rief Anna Barbara
freudig aus: »Oh, da wird auch mein goldener Taler dazwischen sein!«
Hans Geiz sprach darauf recht böse: »Vielleicht ist er dazwischen. Wenn du ihn aber nicht findest, so bekommst du ihn auch
nicht.«
Sprach Anna Barbara angstvoll: »Wie soll ich denn meinen goldenen Taler unter so vielen Tausenden erkennen?«
Sagte der Hans Geiz: »Wenn ihn dein Herz nicht erkennt, so hast du ihn auch nicht verdient. Erkennt ihn aber dein Herz und
bekommst du ihn nicht sauber, so hast du ihn wiederum nicht verdient.«
Damit ging Hans Geiz und schlug die Türe hinter sich zu. Anna Barbara aber sprach zu dem Männlein: »Kannst du mir denn nicht
raten und sagen, welches mein goldener Taler ist?«
Sprach das Männlein traurig: »Hier sind meine Hilfe und Macht zu Ende. Horche nur auf dein eigen Herz, vielleicht, daß es
dir sagt, welches der rechte goldene Taler ist.«
|100| So begann Anna Barbara zu putzen, und bei jedem Goldstück, das sie in die Hand nahm, befragte sie ihr Herz, doch ihr Herz
blieb stumm. Es fiel dem Mädchen aber auf, daß das Männlein stets stiller und schweigsamer wurde. Gar keinen Scherz machte
es mehr, nicht einmal geriet es noch in Wut, und es rührte auch kaum noch ein Bröckchen von dem Brot und ein Tröpfchen von
der Milch an.
Sprach Anna Barbara: »Was ist dir, Männlein? Sprichst nicht, issest nicht, trinkst nicht – du bist doch nicht krank?«
Antwortete das Männlein: »Laß mich, Anna Barbara!«
Sagte Anna Barbara: »Nein, ich lasse dich nicht, Männlein. Ich habe dir ja versprochen, dich nie im Leben zu verlassen. Also
verlasse ich dich auch jetzt nicht.«
Sagte das Männlein mahnend: »Vergiß das auch nicht, Anna Barbara!«, fuhr wieder in seine Flasche und wollte um keinen Preis
erzählen, was ihm denn fehle.
So kam nach langer Arbeit schließlich die letzte Goldtonne heran, und immer noch war Anna Barbaras Herz stumm geblieben. Aus
der letzten Tonne putzte Anna Barbara Goldstück um Goldstück, aber ihr Herz sagte nichts. Schließlich kam sie auf den Boden
der Tonne, aber diesmal lag keine goldene Glocke auf dem
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