Geschichten von der Bibel
zerstampfte sie zu Staub.
»Was tust du?« schrie Levi. »Meinen ganzen Besitz hast du zerstört!«
Der Bettler sagte: »Was ist das? Staub ist das.«
Er streute den Staub über den Tee und sagte: »Trink davon.«
Ein Märchen. Eine merkwürdige Geschichte allemal, allein schon deshalb, weil sie hier abbricht. Wie hat Levi reagiert? Wir erfahren es nicht. Freilich, wir können schließen: So wie wir Levi kennen, wird er sich das bestimmt nicht von diesem falschen Bettler gefallen lassen. Er wird den nächsten schweren Gegenstand nehmen und dem Mann den Schädel einschlagen. Das wäre typisch Levi. Aber das wird nicht erzählt. Wir wissen, es gelang Levi, seinen Bruder Schimeon aus dem Gefängnis zu befreien. Und wir wissen, Josef hat Levi verziehen, daß dieser ihn vor vielen Jahren töten wollte. Will uns diese Geschichte von einer Läuterung erzählen? Hat der Bettler, der ebenso ein Bote des Teufels wie ein Bote Gottes gewesen sein könnte, Levi beweisen wollen, daß Glück eine Stimmung des Herzens und nicht ein Besitz ist? Wer auch immer diese Geschichte gefunden oder erfunden hat, es lag in seiner Absicht, aus dem bösen Levi einen guten Menschen zu machen, einen Menschen, der es wert ist, daß aus seinem Stamm der Erlöser Israels hervorgeht.
JOCHEBED UND AMRAM
Von einem gemeinsamen Schrei – Von der Liebe zweier Kinder – Von einer List – Von einem heimlichen Begehren – Von einer nicht bestandenen Prüfung – Vom Verschwinden der Liebe – Von einer lebenslangen Erinnerung an eine verbotene Leidenschaft – Von nächtlichen Besuchen – Von Aaron, der nicht mehr weinen kann – Von Mirjam und dem Erzengel Gabriel – Von der Geburt des Moses – Von Bithja, der Ziehmutter
Levi hatte viele Kinder, viele Söhne, viele Töchter. Der älteste Sohn hieß Gershom, die jüngste Tochter Jochebed. Jochebed war fünfundzwanzig Jahre jünger als ihr Bruder Gershom. In derselben Stunde, als sie geboren wurde, wurde auch Gershoms Sohn Amram geboren. Mit einem gemeinsamen Geburtsschrei wurden Tante und Neffe in die Welt gehoben.
Da sagte die Hebamme: »Das klingt ganz so, als hätten sich die beiden das Jawort gegeben.«
Da beschloß die Familie, daß Jochebed und Amram, Tante und Neffe, wenn sie das Alter erreicht hätten, Mann und Frau werden sollten.
Jochebed und Amram wuchsen gemeinsam auf, sie wußten, sie würden eines Tages Mann und Frau sein. Das ist keine einfache Sache. Das war deshalb keine einfache Sache, weil das Wort Liebe nicht ein einziges Mal gefallen war. Ja, wenn da einer gekommen wäre und gesagt hätte, wie steht’s denn mit der Liebe zwischen den beiden, dann wären erstaunte Blicke hin und her gegangen in der Familie, und keiner hätte eine Antwort gewußt, weil sich nicht einer diese Frage jemals gestellt hatte.
Also, Jochebed und Amram wußten, sie würden Mann und Frau werden, mit Liebe hatte das nichts zu tun. Aber Jochebed liebte den Amram, und Amram liebte die Jochebed. Nur wußten sie es nicht voneinander. Und Jochebed dachte bei sich: Wenn ich anfange, von Liebe zu reden, dann wird Amram dreinschauen, wie die anderen in der Familie dreinschauen würden bei diesem Thema. Und Amram dachte bei sich dasselbe. Und was ist, wenn er mich nicht liebt, fragte sich Jochebed. Und Amram hatte denselben Kummer.
Dieser Gedanke war schließlich für Amram nicht zum Aushalten, er wollte es wissen, er wollte es unbedingt wissen. Da kam ihm eine Idee: Er erklärte der Familie, er müsse für einige Tage verreisen, verkleidete sich, setzte sich eine Perücke auf, klebte sich Augenbrauen über die Augen, klebte sich Bärte auf Kinn und Oberlippe und übte Bewegungen wie ein Fremder. Er beschaffte sich von einem Reisenden ein Pferd, das gesattelt war, wie man es hier nicht kannte. So ritt er vor die Zelte und bat, vom Wasser des Brunnens trinken zu dürfen. Und wie es die Gastfreundschaft gebot, wurde er eingeladen, die Nacht über zu bleiben.
Amram aß und trank und ließ sich bedienen. Und nach dem Essen richtete er es ein, daß er mit Jochebed allein beim Brunnen war. Und Jochebed senkte den Blick, denn dieser fremde junge Mann gefiel ihr, und das durfte nicht sein. Sie fand keine Antworten auf seine Fragen, wohl auch deshalb nicht, weil die Fragen ungeschickt und zu allgemein formuliert waren, es war ein Gespräch, wie es ein Mann und eine Frau führen, die sich ineinander verliebt haben. Jochebed fühlte sich hingezogen zu diesem Fremden. Kein Wunder, es war ja Amram. Und auch
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